Montag, 4. Januar 2010Kapitel 4: Eindeutig tot, das Vieh!
Als er mit 18 seine erste Zigarette anzündete, war es eine Lucky Strike.
Das war Revolution, Baby! Er hatte seinen Führerschein und war drei Tage zuvor aus der Geiselhaft bei den Zeugen Jehovas geflohen. Zwar gab's dann keine Freunde mehr, weil der protektionistisch geschickt eingeimpfte Gehirnwaschzettel ihnen verbot, mit einem Weltmenschen und dazu noch Abtrünnigen Kontakt zu halten. Was für ein psychosozialer Zwang das war, wurde ihm erst langsam bewusst. Quälend langsam. Selbst Familienmitglieder waren angehalten, sich abzuwenden. Geschenkt, denn er konnte sich erst ab dann mit einem fein inszenierten Donnerschlag aus den Sektenzwängen und -fängen befreien, als er das erfolgreiche Ableben seiner tyrannischen Großmutter auf deren Beerdigung frech feixend feierte. Und der Mutterkontakt war von Geburt an klar und bürokratisch vertraglich fixiert. Fristgerechte Vertragskündigung zum Kindheitsende. Dachte er mit 18. Und gab sich einer Illusion hin. Er zündete sich also seine erste Zigarette an. Die Lucky! Die schwangere Bedeutung der Lettern auf der Schachtel war ihm damals so gar nicht bewusst. Lucky Strike - Glückstreffer! Der großmütterliche Tyrannentod also ein Glückstreffer. Glück ist relativ. Relativ zur Bezugsgröße. Das Glück, hier definiert als klare Abgrenzung zum Unglück vor dem Oma-Garaus (Bezugsgröße). Und das Symbol für den Glückstreffer die erste Zigarette seines Lebens. Was für ein Symbol! Der Beginn seines neuen Lebens manifestierte sich im gesundheitsgefährdenden Akt des Rauchens. Rauchen! Sein erster Beitrag zur aktiven Sterbehilfe. Ein quälend langer suizidhaltiger Prozess war angestoßen. Dieser Begriff "rauchen" wurde in seinen 18 Sektenjahren zuvor mit absolut negativen Assoziationen in die "richtige" Richtung konditioniert. Unmoralisch! Das war das Bonmot, das in frühesten Kindheitstagen während der dreimal in der Woche stattfindenden Zusammenkünfte im Cuxhavener Königreichssaal (alles im geordnet ordentlichen JZ-Sprech) drohend intoniert eingepflanzt wurde. UNMORALISCH! Wenn "unmoralisch" rausposaunt wurde, war in der logischen JZ-Folge "rauchen" nicht allzu weit weg positioniert. Für ihn Synonyme: unmoralisch und rauchen. Wenn er nachts im beengenden Bett das Wort "unmoralisch" visualisierte, sah er stets das Bild von blauem Rauch und einem Mann. Einem ganz klar als unmoralisch zu erkennenden Mann. Nur weil er rauchte! Das Bild dieses im blauen Dunst sündenden Mannes löste bedrohliche Gefühle aus. Ein Bild aus einem der gedruckten Pamphlete des "treuen und verständigen Sklavens", wie die Missionierungsindustrie die Macher der reaktionär verstörenden Druckwerke nannte. Der Raucher, personifizierter Weltmensch, war inkompatibel zum göttlich verordneten Wertesystem. Er stand für die konsequente Entscheidung, vernichtet werden zu wollen. Der Raucher war im Zigarettenrauch gefangen, er würde durch die Zigarette sterben. Und noch einmal vom lieben Gott zu Ende gequält werden. Ein zwangsläufiges Produkt und Role-Model der Unmoral. Auf dem einasphaltierten Ufer an der Bucht, wo die Elbe in die Nordsee fließt, da stand der neu-unmoralische Mann im tödlichen Rauch seines Glückstreffers. Ja, er hatte sich seine Unmoral teuer erkämpft! Die Nachricht über den lang ersehnten Tod seiner Großmutter erreichte ihn nur Tage vorher im Auto, mit dessen Schenkung sich seine Großmutter - so interpretierte er die 14000 deutschen Mark, die er von ihr erhielt - aus einer unbezahlbaren Schuld herauskaufen wollte. Das Handy klingelte, als er genau die Hälfte der Strecke auf der Autobahn 27 zwischen Bremerhaven und Cuxhaven zurückgelegt hatte. In Bremerhavens Handelskammer hatte er zuvor eine Einheit eines zertifizierten Englisch-Kurses absolviert. Cambridge-English. "Sie ist tot! Das musst Du Dir anschauen, damit Du es auch glaubst", war die knappe Nachricht seiner Mutter. Er verließ die A27 an der nächsten Ausfahrt, fuhr über die Brücke und fädelte in entgegengesetzter RIchtung wieder ein. In Bremerhaven hatte die für ihn personifizierte Tyrannei den Kampf gegen den Krebs überraschend früh aufgegeben. "Sie ist tot!" Diese Nachricht erfüllte ihn mit Freude. Mehr noch, sie löste eine Kettenreaktion an Leichtmütigkeit aus. Er hatte das Gefühl, in wohliger Watte verpackt zu schweben. Eine frohsinnige Energie übernahm die Kontrolle über ihn. Er konnte es nicht erwarten, endlich die Leiche zu begaffen. Flirrende Gedanken- und Erinnerungsfragmente türmten sich zu dreidimensionalen Mosaiken auf. Ein Bild, wie die Oma ihn auf der Treppe zwischen Helgolands Unter- und Oberland ins Gesicht schlug, als er 14 war und der Mama eine in Großmamas Augen freche Antwort gab. Und die Leute guckten komisch. Ein Bild, wie die Oma hysterisch in Tränen aufgelöst mit ihm über einen spanischen Flughafen irrte, weil sie den Flieger verpasst hatten und wie er mit 10 Jahren die Oma beruhigen und einen neuen Flug organisieren musste, weil sie in ihrem Nervenzusammenbruch zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war. Und die Leute guckten komisch. Es war die Großmutter, die ihn das erste Mal "Bastard" nannte, als die Mama das Neugeborene überraschend präsentierte, nachdem sie die Schwangerschaft geheimhalten musste. Uneheliche Kinder auch noch von einem weltmenschlichen Erzeuger waren in der brutal simpel gestrickten Welt der Zeugen Jehovas eine Frucht aus der Elite der schlimmsten Sünden. Das war für die Oma natürlich mehr als ein Schock, als sie feststellen musste, dass ihre tadellos weiß gestärkte Weste innerhalb des Zeugen-Jehovas-Systems in der bremerhavenerischen Versammlungs-Enklave einen Riesenblutfleck erhielt. Sie war die Großmutter eines Bastards, eines sündigen Störprodukts. Und mindestens das machte das Würmchen in den Armen der Tochter hassenswert. Es zerstörte die großmütterliche Fassade der guten Dienerin Jehovas, die hoch angesehen ob ihres selbstaufopfernden Altruismus gegenüber bedürftigen Glaubensbrüdern und -schwestern war. Ein klaffender Riss im System. Ein nicht einfach so legitim zu lösendes Prozessproblem. Klar war es auch nachvollziehbar, dass das Menschenbündel dafür gehasst wurde, dass die Mama vorher nichts von der Schwangerschaft verriet. Das Baby, das er tatsächlich mal war, war allein durch seine Entstehung schon böse. So wollten es die subtil ausgelegten Regeln der Zeugen Jehovas. Oder sie machten es möglich. Die Zeugen Jehovas, eine in Deutschland anerkannte Religionsgemeinschaft, konnte so etwas natürlich nicht in ihren frei zugänglichen Regelwerken explizit äußern. Diese harmlose Religionsgemeinschaft. Aber sie konnten darauf vertrauen, dass die Basis die Regeln in ihrer freien Interpretation stets radikalisierte. Er war ein Bastard, das wusste jeder der Brüder und Schwestern. Er war ab seiner Geburt unter besonderer Beobachtung. Die klare Erwartung, dass er im reinen vollkommenen Zeugen-Jehovas-Kontext nur Unheil anrichten konnte. Eben die Ausgeburt des Bösen, die man genau überwachen musste, damit sie kein Unheil anrichtete. Eine interessante Bürde für einen Menschen, der bis dahin gerade mal einen Tag Zeit hatte, die Welt zu entdecken. Ein schöner Forschungsgegenstand. Wäre er gewesen. Aber für solch einen zeitgenössischen Kaspar Hauser interessierte sich natürlich kein Wissenschaftler. Wie auch, wenn sich noch nicht einmal der von der Mama nach der erfolgten Schwängerung geschasste Papa groß für sein Schicksal interessierte. Für ihn war er letztendlich auch nur ein Bastard, wenn auch aus einer ganz anderen, aber genauso nachvollziehbaren Sichtweise. Dass die Mama die böse Sünderin war, weil sie sich unehelich und noch von einem Weltmenschen schwängern ließ, kam ihm über Jahrzehnte nicht in den Sinn. Die Systeme funktionierten zu gut, um ihn bloß nicht kritikfähig zu machen. 18 Jahre lang hatte er, der böse Bastard, mit diesen Gegebenheiten zurechtzukommen. Und er meisterte es bis dahin erfolgreich. Durch ein detailliert entwickeltes Anpassungssystem, das sein Überleben sicherte, indem es überraschend reüssierend die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit verhinderte. Für seine eigene Persönlichkeit hätte es keinen Raum gegeben, denn jedes Anecken in den drei übermenschlichen Strukturen (Mutter-Welt, Oma-Welt, Sekten-Welt) hätte fatalste Folgen bedeutet. Das war schon tief im Bewusstsein verankert, als er noch im ersten entwicklungspsychologischen Stadium der Entwicklung steckte. In diesem Kontext nur ein kleines feines Detail, dass sein Selbstmord 13 Jahre später letztendlich noch nicht mal als Mord gewertet werden konnte, da ihm eine kontrastreiche Persönlichkeit fehlte. Der Suizid also eine enorm verspätete Abtreibung des eigenen unfertigen Lebens. Noch mehr, ihm war stets bewusst, dass allein seine Geburt die schlimmste Sünde seines Lebens war. Er war die Ausgeburt der Sünde - und genau so fühlte sich sein Leben bis zu seinem Tode an. Er merzte die eigene Sünde aus, für die er sich verantwortlich fühlte. Ein vielleicht erleichternder Gedanke für zynismusferne Zeitgenossen! Schließlich erreichte er das St.-Jürgens-Krankenhaus in Bremerhaven, in dem man ihm einige Jahre zuvor die Mandeln entfernt hatte. Im ehemaligen Kranken-, nun Totenzimmer erwartete ihn bereits Mama. Und die verblichene Oma. "Ich bat die Schwester, sie so zu lassen, wie sie starb!" "So gelassen" bedeutete eine von Totenstarre langsam heimgesuchte Fratze. Mund und Augen dramatisch aufgerissen. Ein Gesichtsausdruck, der ein gewisses Entsetzen der Verstorbenen ausdrückte, als ihr im letzten Atemzug bewusst wurde, dass sie ihre tyrannisch mächtige Stellung wohl doch zu früh aufgegeben hatte. Entsetzen darüber, dass sie Tochter und Bastard-Enkel mit ihrer vom lieben Zeugen-Jehovas-Gott legitimierten Machtstellung nicht mehr quälen konnte. Er hasste diese Frau. Und er hatte dieser Frau schon von Kindesbeinen an den Tod gewünscht. Jedes verdammte Wochenende musste er mit seiner gefügigen Mama diese Hexe in Bremerhaven besuchen. Miterleben, wie sie die Mama und ihn demütigte. Am Freitag hin und Sonntag in aller Frühe zurück, um nur rechtzeitig bei der Zusammenkunft der Cuxhavener Zeugen Jehovas aufzuschlagen. Jeden einzelnen Freitag erlebte er noch morgens in der Schule den ersten Nervenzusammenbruch ob des kommenden Wochenendes unter der Fuchtel der Familientyrannin. Auf der halbstündigen Fahrt auf der Autobahn zwischen Cuxhaven und Bremerhaven - 44 Kilometer - wurde er stets unendlich müde. Die allgegenwärtige Angst vor dem Bewertungssystem der Mama wurde potenziert durch noch viel mehr panischer Angst vor den Ausbrüchen der Oma. Der gute alte Psychoterror. Wenn Mama und Oma am Wochenende abends noch mal unterwegs waren und er allein auf seiner Liege im Gästezimmer der Oma-Wohnung lag, wünschte er sich immer und immer wieder inständig, dass die beiden nie zurückkämen. Dass die beiden das Opfer eines bestialischen Verbrechens oder wenigstens eines tödlichen Autounfalls wurden. Er steigerte sich stets in diese Fantasien hinein, da sie ihm in ihrer Konsequenz so viel Lebenslinderung versprachen. Und immer wieder die unermessliche Enttäuschung, wenn er dann irgendwann den Wohnungsschlüssel das Türschloss penetrieren hörte. Warum kratzten diese Frauen denn nicht einfach so ab? So viele Menschen wurden tagtäglich aus banalsten Gründen aus dem Leben befördert, warum nie diese beiden? Gedanken, die er bereits mit sechs Lebenjahren klar vor sich hin formulierte. Er betete sogar zum gnädigen Jehova um ihren Tod! Und war sich zeitgleich darüber bewusst, dass er wegen dieser Gedanken vom lieben Gott einst in größte Qualen getrieben würde! Ein Arschloch von Gott war dieser von den Zeugen Jehovas und seiner Mama und Oma in ihm manifestierte Gott! Aber konnte man von einem Bastard andere Gedanken erwarten? Erst mit Mitte 20 erfasste ihn zum ersten Mal die Frage, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, den Tod seiner elterlichen Bezugspersonen (sic!) zu forcieren. Oma war zwar längst tot - aber hätte er sie nicht schon früher in den Tod treiben können? So ungefähr mit 10? Aber dann hätte ihn Mama totgemacht. Und hätte er Mama in den Selbstmord getrieben durch mamasystem-inkompatible Verhaltensweisen, hätte sie erst ihn, dann sich selbst ermordet. Nun, das wäre an sich eine coole Sache gewesen, von der eigenen Mutter hingerichtet zu werden. Immerhin für die Außenwelt effektiver als dieses Pulsadern-Aufsäbeln im Motel in Florida, von dem niemand in der Heimat je erfahren würde. "Scheiße, ich muss die Fenster aufmachen, sonst geht ihr Geist nicht raus. Und nimmt noch Besitz von uns!" Panisch sprang Mama mit diesen Worten zum Fenster und riss es auf. Erleichtert schaute sie auf ihre Mutter. "So, und jetzt ihre Augen zu, es reicht!" Dann forderte sie ihn auf, Omas kalte tote Hand in seine Hand zu nehmen. "Du musst fühlen, dass sie tot ist! Sonst glaubst Du es nicht. Und sie wird Dich verfolgen!" Er tat so. Nahm die teigige alte Horrorhand und quetschte an ihr herum. Eindeutig tot, das Vieh! Eigentlich hätte er die Oma noch vor ihrem Tod am gleichen Tag besuchen sollen. "Es könnte das letzte Mal sein, dass Du sie lebend siehst!" bedeutete ihm seine Mama noch am Morgen. "Dann kannst Du Dich von ihr verabschieden. Das ist sehr sehr wichtig!" Dem verweigerte er sich. Er verspürte keinerlei Antrieb, dem Restleben der Oma noch seine letzte Ölung zu verpassen. Vielleicht hätte sie gar seinen Besuch dahingehend missinterpretiert, dass er ihr vergeben würde für ihre Gräueltaten an sich und seiner Mama. Damit zog er folgerichtig die rasende Wut seiner Mama auf sich - aber dieses Mal kalkulierte er jedwede Eskalation wohlwollend mit ein. Nun hatte es sich zum Guten gefügt. Zunächst. Dumme Erleichterungsgefühle. Vorübergehende Linderung durch den Tyranninnentod. Er verlangte den Türschlüssel zur Wohnung seiner Oma, verließ das Krankenhaus und fuhr zum Ort seiner schlimmsten Kindheitsalbträume. Zielgerichtet marschierte er in die Stube, stöpselte den großen Röhrenfernseher ab und trug ihn mühselig zum Kofferraum seines Autos. Draußen fing ihn die Nachbarin seiner Oma ab. "Oh, ist sie verstorben?" "Ja, endlich!" "Was? Ähm, mein herzliches Beileid!" "Was auch immer!" sagte er und lächelte so herzensgut fröhlich, dass sich die Nachbarin bestürzt abwendete und zurück ins Haus eilte. Er stieg ins Auto, drehte den Zündschlüssel um und ließ es sich nicht nehmen, den anderen Nachbarn, die aus den Fenstern lugten, seinen dünnen langen Mittelfinger in die neugierigen Fratzen zu schmeißen. Er zog die Handbremse beim Gasgeben an, um die Reifen quietschend durchdrehen zu lassen und beschleunigte das Gefährt in der Tempo-30-Zone auf 80 Stundenkilometer. Und da stand er einige Monate später an der Elbe, hatte seine erste Zigarette angesetzt, inhalierte und kämpfte mit dem Hustenreiz und Würgreflex. Lucky Strike. Mit den Jahren wechselte er die Marken noch mehrmals durch. Die roten Gauloises, dann Marlboro light und später die schwere Variante. Es folgten NIL, John Player Special und zuletzt die mintfarbenen Softpacks von P&S. Einmal gewöhnte er sich das Rauchen noch für ein Jahr ab, um dann kurz vor seinem Selbstmord noch eine letzte Zigarette genüsslich zu inhalieren. Einen letzten Glückstreffer! Kommentare
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KommentareMi, 13.03.2013 07:34
leider geil!!!
Fr, 09.11.2012 07:37
Hallo Herr Nilsen,
da ich d
ie Bande auch schon kennenlern
en, und mit ihren eigenen Mitt
eln erfolgreich schlagen [...]
Fr, 05.10.2012 15:27
ist das geil!!!!!!
XD made my
day!
Freue mich grad n bis
chen, nicht zum St.Pauli-Cente
r zu müssen und bange gl [...]
Sa, 21.04.2012 22:12
Du solltest deinen Kopf mal ei
ner gründlichen Untersuchung b
eim Spezialissten unterziehen!
Was du alles mit "Nazis [...]
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