"Hey!"
Ihm gefiel sofort ihr etwas zu großer weißer Kapuzen-Sweater mit den dunkelblauen "Nike"-Lettern. Eine ausgewaschene dreiviertel-lange Jeans, keine Socken und blaue Adidas-Sneaker. Ein rundes Gesicht, die offenen Haare wie die großen Augen braun, Sommersprossen auf der geröteten Haut, fordernde zu den Nüstern rundlich breite Stupsnase. Die Hände im Sweaterbeutel auf dem Bauch.
"Hey!" Sie wiederholte ihren Gruß mit einer angenehm schmeichelnden Stimme, die sich sofort ungefragt in seinem Kopf breitmachte.
"Äähh... Hi!"
"Writing?"
"Yeah, obviously!"
"Diary? Novel?"
"Kind of both, I guess!"
"You have a German accent!"
"Oh, I am from Northern Germany!"
"Bremen?"
"Hamburg! Lived half a year in Bremen!"
"Oh, dann sollte ich deutsch mit Dir sprechen!"
"Einverstanden!"
"Du siehst fertig aus!"
"Oh, danke!"
"Hey, sorry... Bist noch nicht lang hier? Bist so bleich!"
"Ähm, ja... Bleich. Heute erst angekommen!"
"Allein?"
"Jawohl!"
"Gut!"
"Gut?"
"Ja! Ohne Humanlast!"
Er grinste.
"Humanlast! Die wird man allein aber auch nicht los!"
"Probleme an der Elbe?"
"Flucht an den Pazifik!"
"Nach Florida? Miami? Bestrafst Du Dich selbst?"
Jetzt musste er das erste Mal lachen.
"Wohin denn sonst?"
"Kalifornien ist ausstiegskompatibler."
"Hab ich vor sechs Jahren auch gedacht!"
"Kann ich mal lesen?"
Sie zuckte zusammen.
"Also, wenn's nicht zu frech ist!"
"Das, was ich geschrieben hab?"
"Ach, Dein Tagebuchroman wird ja kaum ne Frechheit sein."
"Aber Du?"
"'türlich!"
"Sicher!"
"Ich frech?"
"Nein, die Leseanfrage!"
Er überreichte ihr seine Kladde, sie hockte sich auf das Geländer über ihm. Dann zog sie eine Sehhilfe mit pinkem Gestell und Minnie-Mouse-Applikationen aus ihrem Bauchbeutel und drapierte sie umständlich auf ihrer mutigen Nase.
"Dann mal schauen, was der Herr Literat aus Hamburg draufhat..."
"Ich stamm aus Cuxhaven!" murmelte er in einem fast entschuldigenden Tonfall.
"Ach, das wird ja immer besser mit Dir!"
"Was?"
"Jetzt sei mal ruhig, will lesen. Boah, hast Du ne miese Handschrift!"
Während sie sich in sein psychoanalytisches Pamphlet vertiefte, hatte er endlich genug Zeit, sie genau zu betrachten.
Wie sie da über ihm auf der Brüstung der Lifeguard-Warte in sein geschriebenes Wort versank, schätzte er sie auf Ende 20. Vielleicht gleichalt.
Wie sie da über ihm gebeugt saß, konnte er sich nicht entscheiden, ob er sie hübsch finden sollte.
Wie sie da über ihm die Unterlippe leicht über die Oberlippe schob und langsam wieder zurückzog, fand er, sie hatte einen etwas zu breiten Mund und etwas zu viel Lippe.
Wie sie da über ihm kauerte, betrachtete er ihren weißen Kapuzenpulli kritischer, fragte sich, warum er ihm zunächst so gefallen hatte und ob sie einen Bauch mit Schwangerschaftshautlappen kaschieren musste.
Wie sie da über ihm in sich zusammenfiel, überzeugte er sich selbst, sie unattraktiv zu finden, bei der infantilen Kleinmädchen-Brille gar nicht so schwer.
Wie sie da über ihm ihre Attraktivität einbüßte, schwor er sich, sich in keinem Fall in sie zu verlieben.
Und was sollte das, dass sie ihn einfach so anquatschte? Quatschte sie jeden an? Ja, sie war frech. Und nervig. Man las doch nicht einfach so in fremden Tagebüchern. Zu neugierig und unausstehlich.
Wie sie da über ihm seine großartigen Gedankenkomplexe las. Verstand sie das überhaupt? Und warum war sie eigentlich hier? Eine Deutsche in Miami. Ja, Kalifornien, das hätte gepasst, dann hätte er sich gestattet, sie vielleicht cool zu finden. Aber hier? Nein! Die war doch behämmert. Und dieser debile Silberblick. Die kapierte doch kein einziges Wort. Und regte sich auch noch über seine Handschrift auf. Er schrieb doch nicht für so ein hergelaufenes deutsches Riesenlippen-Teil, das sich nicht ordentlich anziehen konnte und noch nicht mal hübsch war. Sie sollte das nicht lesen. Die hatte doch offensichtlich gar keine Ahnung, worum es ging. Und mal gar kein Recht, seine Handschrift zu kritisieren. Was für eine dumme Nuss!
Die dumme Nuss richtete sich auf und begann zu lächeln.
Was hatte die denn jetzt plötzlich zu lächeln? Da war nichts zum Lächeln zu lesen. Er bereute zutiefst, ihr so ganz ohne Gegenwehr sein Jahrhundertwerk in die viel zu kurzen Finger gegeben zu haben. Was für kurze Finger. Und auch zu dick. Dreck unter den Fingernägeln. Was für ein dämliches Dreckstück!
Wie sie da über ihm thronte und lächelte, musste er kurz zugeben, dass ihr Lächeln etwas Zwingendes hatte. Wenn sie lächelte, sah sie gar nicht mal so schlecht aus. Aber das Lächeln war das einzig Positive an ihr. Und die Schuhe. Die Adidas-Treter waren echt nett. Einfache blaue Sambas mit angerautem Leder, sicher aus einem Outlet-Store außerhalb von Miami. Hauptsache schön billig. Was für eine billige Grenzdebil-Lächlerin.
Er zuckte zusammen, als die billige Grenzdebil-Lächlerin mitten in seine Gedanken einen schrill quietschenden Laut einschlagen ließ.
"Wie geil! Selbstverliebte Aal-Schädel!"
Sie gluckste beim Lachen. Was für eine nervenzerfasernde Lache sie nur hatte. Ja, das hatte sie kapiert: Selbstverliebte Aal-Schädel. Kein Wunder, dass sie so dämlich darüber kicherte. Die freute sich, dass sie endlich mal ein Wort verstand. Und bildete sich sicher noch ein, damit ihr intellektuelles Minus tilgen zu können. Und selbstverliebt war die doch auch. Völlig zu Unrecht. Was bildete die sich eigentlich ein?
Andererseits... Vielleicht war sie ja doch irgendwo auf Augenhöhe anzusiedeln. Und sie verstand ganz genau, was er da hingeschmiert hatte. Eigentlich hätte er sich auch mehr Mühe mit seiner Handschrift geben können. Manchmal konnte er alte Texte von sich im Nachhinein kaum noch entziffern. Und sie fand Kalifornien auch cooler als Florida, hatte sie gesagt. Da konnte sie gar nicht ganz so doof sein.
Wie sie das wohl fand, was er geschrieben hatte? Was hatte er noch gleich geschrieben? Er spürte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen. Eine windende wachsende Nervosität. Was war jetzt denn los? Er spürte, dass sich sein Magen in einem vorsichtig stechenden Übelkeits-Gefühl zusammenkrampfte. Er hatte seit der Landung nichts gegessen. Kein Wunder, dass ihm schlecht wurde.
"Feige Angstgnome!" gluckste es über ihm.
Nein, das war ein Angstgefühl, das seinen Darm besetzte. Wie kurz vor Prüfungen. Oder vor Referaten. Vor öffentlichen Auftritten in unangenehmen Bewertungs-Anordnungen. Warum war ihm es wichtig, was sie von seinem Pamphlet hielt? Warum war es ihm wichtig, was sie von ihm hielt?
Sie sah gar nicht so schlecht aus. Sie hatte was! Sie sah richtig toll aus, wenn sie lächelte!
Oh Gott, was hatte er nur geschrieben? Was las sie da gerade? Er wollte doch gar nicht, dass das irgendjemand las. Und vor allem sie nicht. Sie kannte ihn doch noch gar nicht! Sie würde ihn vollkommen falsch bewerten.
Was stand da nur? Warum gehorchten ihm seine Gedanken nicht mehr? Was mit Freud. Oh nein, Freud! Wie schrecklich! Er hatte kompletten Scheiß zusammengeschrieben. Da konnte sie ihn doch nur für bekloppt halten. Für grenzdebil, dumm oder gar selbstverliebt. Scheiße! Sie sah echt toll aus!
Und er? So toll sah er nicht aus. Er hatte ja noch nicht mal geduscht. Und bestimmt stank er tierisch nach Schweiß und Inder-Schwein! Er wollte doch duschen, als er im Hotel ankam. Warum war er gleich an den Strand gerannt? Jetzt, wo es drauf ankam.
Naja, ganz so schlecht konnte er nicht aussehen, da war er sich sicher. Sie muss nur meine Augen sehen. Meine Augen sind das Kapital. Das haben die Freundinnen früher auch immer gesagt: Tolle himmel-/stahl-/gebirgssee-blaue Augen. Mist, warum war nur die Sonne fast weg? Sonst hätte er sich so zu ihr gedreht, dass die Sonne in seine Augen scheinen und sie zum blanken blauen Blitzen animieren könnte. Nichts funktionierte. Und dann die Scheiß-Klamotten, die er trug. Seinen Lieblings-Sweater hatte er auf dem Bett im Hotel liegen lassen... Kacke! Hoffentlich beeindruckte sie wenigstens das Geschriebene.
Nein, er konnte es sich nicht leisten, sich in sie zu verlieben. Sie würde ihn auslachen. Mit ihren Lachglucksern. Mit dieser verdammt geilen Lache.
"Verkümmerte Pimmel!" lachte es verdammt geil über ihm.
Die war echt geil! Und es sah echt geil aus, wie sich die Titten unter dem Pulli abzeichneten. Nicht groß, nicht klein. Wo waren die Nippel? Schön mittig. Ganz schwach meinte er, sie sich abzeichnen sehen zu können. Er konnte zwar auch zwischen ihre Schenkel schauen, aber ungeschickterweise war die Hose etwas runtergerutscht, dass er ihren Venushügel nicht ausmachen konnte. Würden sie heute noch miteinander schlafen? Das wär's! Mist, er hatte nicht geduscht. Und sich untenrum schon seit längerem nicht rasiert. Vielleicht konnte er sich für später mit ihr verabreden und vorher noch mal duschen und Intimpflege betreiben. Ob sie auch so geil gluckste, wenn er in ihr steckte? Wie würde sich ihr Arsch unter seinen Händen anfühlen, wenn sie auf ihm ritt? Würde sie ihm dabei tief in die Augen schauen? Die braunen Augen aufgerissen, der vollkommene Mund leicht geöffnet. Und das geile Glucksen. Scheiße, er durfte jetzt keine Erektion bekommen, die Bermuda war viel zu weit. Und die Unterhose auch. Er müsste sitzen bleiben, wenn sie ihn aufforderte, ihr zu folgen. Damit sie seinen Zustand nicht sah. Wie peinlich. Keine Erektion. Bloß keinen Steifen! Vergebliche Gedankenkontrollversuche. Er hatte keine Kontrolle über seinen Pimmel. Würde ihr sein Schwanz gefallen? Würde sie ihn zwischen ihren perfekten Lippen mit der Zungenspitze kitzeln. Hoffentlich kam er nicht zu früh. Nee, die war viel zu geil, als dass sie mit ihm ficken würde.
Und mit seiner Erektion beendete sie die Lektüre.
"Echt niedlich!"
"Was?"
"Ach, komm, das ist echt süß, wie Du schreibst."
"Bitte?"
Sie reichte ihm sein Buch.
"Steck weg! Könnte echt was draus werden!"
"Naja, ist ja nur ein Tagebuch."
"Na klar!"
Sie glitt vom Geländer und stellte sich vor ihn. Sie neigte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Wange.
"Lass uns spazieren gehen."
Sie hatte ihn geküsst! Auf die Wange. Freundschaftlich. Wie demütigend!
"Also eigentlich wollte ich hier weiterschreiben!"
"Ach, Quatsch, jetzt bin ich da!"
"Nee, ehrlich, ich wollte hier eigentlich allein sein!"
"Aber ich nicht!"
"Das ist doch nicht bindend für mich!"
"Pass mal auf! Du bist hier nicht mehr allein. Und jetzt hab ich ein Wörtchen mitzureden. Ich entscheide mich dafür, dass wir jetzt spazierengehen."
"Du kannst mich aber nicht zwingen!"
"Wir sind hier inner Demokratie, mein lieber Hamburger Autor!"
"Ja, eben! Und ich entscheide mich, hierzubleiben. Du kannst machen, was Du willst! Ich habe das verfassungsmäßige Recht auf körperliche Unversehrtheit!"
"Was?" Sie lachte schon wieder unverschämt geil! "Du bist ja verdammt reaktionär!"
"Ich bin NICHT reaktionär! Ich poche auf meine Persönlichkeitsrechte! Und die nehme ich ausdrücklich wahr, indem ich mich entscheide, allein sein zu wollen!"
"Du entscheidest Dich, etwas zu wollen? Eine Entscheidung für Deinen Willen? Jetzt hör mal zu, Du zerrissener Poet! Wir sind hier sowas wie ein soziales Gebilde. Eine soziale Einheit! Das haben wir besiegelt, als Du mir Dein Buch überreicht hast und als Dich dann auf die Wange geküsst hab. Und ich nehme mal an, dass Du Psycho-Rebell auf Gleichberechtigung Wert legst?"
Sie WAR wohl doch irgendwie intelligent. Und geil! Und nervig! Nein, er wollte sich jetzt bloß nicht verlieben.
"Ja, und?"
"Also, wir als soziale Einheit müssen jetzt einen Konsens finden, der beiden gerecht wird!"
Und sie war schön. Richtig schön. Und hatte tolle braune Augen, die ihn jetzt fixierten. Aber er konnte jetzt noch nicht mit ihr gehen, weil der ausbeulende Inhalt seiner Hose das zu verhindern wusste. Verdammt!
"Okay. Hör zu, ich bin bei Dir. Mein Konsens-Angebot ist das hier: Du lässt mich noch ne Weile allein. Dann holst Du mich hier ab, und ich gehe mit Dir spazieren!"
Sie lachte wieder so unwiderstehlich glucksend.
"Jetzt hör doch auf, Du Arsch! Ich seh ganz deutlich die Beule in Deiner Hose! Du bist jetzt lieb und kommst artig mit mir mit! Das ist jetzt die Diktatur der weiblichen Minderheit. Minderheitenschutz! Frauenquote! So sieht's aus, versponnener Autor von der Elbe!"
Sie sah nicht nur geil aus, war nicht nur irgendwie intelligent, sondern ihm überlegen. Das gefiel ihm so gar nicht! Vor allem, weil er merkte, dass sich seine Gesichtshaut erhitzte. Und sie wusste, dass er geil war! Absolute Katastrophe!
"Okay, bin dabei!" presste er gewollt zerknirscht heraus.
"Siehste!" trumpfte sie auf, packte seine Hand und zog ihn hoch.
Sie ließ nicht los, als er stand. Ihre Hand hielt seine Hand, während sie in der einsetzenden Dunkelheit dem sonoren Rauschen und Plätschern zustrebten. Gar nicht mal so kurze Finger und vor allem nicht fleischig. Die kleine Hand passte perfekt in seine. Er wagte sich nicht, mit seinem Daumen die Beschaffenheit ihrer Haut zu untersuchen. Bloß keine falsche Fingerbewegung. Das konnte nur schiefgehen. Einfach teilnahmslos tun, so als würde er gar nicht merken, dass sie seine Hand nicht losgelassen hatte. Vor allem hatte es sicher nichts zu bedeuten. Jetzt keine falschen Interpretationen. Sie dachte sich doch überhaupt nichts dabei, seine Hand zu halten. Nichts Romantisches. So war sie eben. Frech! Und offen.
Ja, es war ganz unschuldig, wie sie da händchenhaltend dem Meeressaum entgegen schwebten. Er wagte sich nicht, sie von der Seite zu mustern.
"Viel redest Du nicht, was?"
"Mann, ich bin fertig vom Flug."
"Jaja!"
"Ja! Und außerdem habe ich rein technisch schon viel mehr erzählt als Du!"
"Ach, was!" Ihr spöttischer Unterton gefiel ihm.
"Ja! Ich habe durch meinen Text mit Dir geredet."
"Gilt nicht!"
"Natürlich gilt das! Du hast Dich einfach so in die Tiefen meines Bewusstseins eingeklinkt."
"Soll ich Dir mal was sagen? Dein Fassadentext beeindruckt vielleicht irgend so ne Erstsemester-Soziologie-Schnepfe. Die wär total verzückt, dass Du sie soooo tief in Dir graben lässt. Wow!"
Sie war nicht beeindruckt von seinem Text. Sie verachtete ihn. Und ließ ihn das spüren, indem sie mit ihm das alte Händchenhalten-Spiel spielte. Die war richtig bösartig. Sie wollte ihn spüren lassen, dass er sie niemals haben könnte. Perfide! Erst Appetit machen und dann den Hauptgang zurück in die Küche gehen lassen. Für irgendwas oder irgendwen wollte sie sich an ihm rächen! Klar, er hatte es kapiert. Nicht mit ihm!
"Ich bin hier nicht der Depp für irgend ne Wiedergutmachung!"
Sie blieb abrupt stehen, löste ihre Hand aus seiner und stellte sich vor ihn. Sie war fast einen Kopf kleiner als er und musste ihren Hals leicht zurückbiegen, um ihn anschauen zu können. Die Sonne war weg. Die Augenwaffe war unbrauchbar.
"Du bist Borderliner, ne?" Sie grinste ihn breit an! "Die Welt hat sich gegen Dich verschworen, ne? Alles, was in der Welt passiert, passiert nur, damit es Dir noch ein Stückchen beschissener geht? Stimmt doch, oder? Hat Dich Deine Freundin verlassen?"
"Nein, ich sie!"
"Klar, dann kann sie Dir wenigstens nichts mehr tun. Du erträgst keine Humanlast, was?"
"Sag mal, was willst Du von mir?"
"Ich will mit Dir spazieren gehen! Und was willst Du von mir?"
"Du hast mich doch angequatscht!"
"Lenk jetzt nicht ab!"
"Wovon denn?"
"Was willst Du von mir?"
Er dachte nach. Was wollte er von ihr? Sollte er Sex sagen? Nein, das würde er sich nie trauen. Sollte er sagen, dass er von ihr in Ruhe gelassen werden wollte? Wollte er das?
"Ich will erstmal, dass Du wieder meine Hand nimmst!"
"Das ist sehr gut!"
Sie schob ihre Hand wieder in seine.
"Und dann will ich von Dir, dass Du mich hier nicht so dämlich beurteilst. Ich mein, Du kennst mich kein Stück, hast einen Text von mir gelesen. Und meinst jetzt, mich hier groß durchschauen zu können. Du ziehst alles aus mir raus und gibst von Dir nichts preis! Gar nichts! Das ist ne billige Masche!"
Inzwischen war es zu dunkel, um ihre Augen richtig erkennen und fixieren zu können.
"Klar ist das meine Masche. Du gefällst mir!"
Sie reckte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn auf die Nase.
"Und jetzt gehen wir spazieren, und ich lass Dich nicht mehr los!"
Sie stapften durch den Sand. Auf den Wasserlinien mäanderten die Lichter der Hotelblöcke. Es kühlte merklich ab. Davon konnte er schon gar keine Notiz mehr nehmen, denn seine Gedanken verliefen sich zielgerichtet an jedem Neuronenbündel. An jeder Megakreuzung spalteten sie sich auf, um ja keinen Hohlweg auszulassen. Sackgassen und Nebenstraßen, den Hauptverkehr zur Stoßzeit meiden.
Was passierte mit ihm? Wer war sie? Und warum nahm sie so sehr von ihm Besitz? Steigerte er sich mal wieder künstlich in Nicht-Existierendes? Wo führte der Weg am Wassersaum hin? Er schaute aufs nun vollkommen in dunkle Vergessenheit getauchte Meer. Wenn sich dort ganz unbemerkt eine Monsterwelle zusammenmixte? Den Wellenberg würden sie kaum hören können und erst sehen, wenn sie ihn bereits spürten. Er quetschte unwillkürlich ihre Hand stärker. Bloß nicht loslassen, wenn sie gleich lautlos in den Ozean gezerrt würden. Nur nicht loslassen. Er wollte nicht allein ertrinken.
"Lass uns auf den Walk gehen!" Er gab der aufkeimenden Panik nach.
"Warum?"
"Weil ich jetzt nicht mit Dir ertrinken will!"
"Würdest Du mich nicht retten?"
"Doch!"
"Kannst Du schwimmen?"
"Ja, ich hab Seepferdchen, Frei- und Fahrtenschwimmer!"
"Cool, ich kann nicht schwimmen."
"Ich kann sogar diese Rettungsschwimmer-Moves!"
"Du würdest mich retten!"
"Ich würde Dich aus den Fluten ziehen und dann elendig auf dem Sand ertrinken, weil ich zu viel Wasser unter Dir geschluckt hätte!"
"Du bist ein Held!"
"Ich weiß!"
"Aber heute noch nicht! Okay, wir gehen hoch!"
Sie wand ihre Hand aus seiner und legte ihren Arm um seine Taille. Er umfasste im fairen Gegenzug ihre Schulter.
Als sie den spärlich beleuchteten Beach-Walk erreicht hatten, küsste er sie mutig auf die Wange.
"Ich bin müde!" sagte er.
"Ich nicht!" sagte sie.
"Also Konsens finden!" seufzte er.
"Ich mag heute nicht mehr mit Dir diskutieren!" seufzte sie. "Du kannst jetzt machen, was Du willst, ich lass Dich wieder frei!"
"ich kehre eh wieder zu Dir zurück!"
"Ich weiß!"
"Zu mir oder zu Dir?"
"Ach, zum Ficken bist Du also nicht zu müde?"
"Jetzt kennst Du meine Masche!"
"Schön, Du hast auch ne Masche!"
"Ich hab viele Maschen. Mein Flickenteppich ist fadenscheinig!"
"Und ich wünsch mir, dass Du geheimnisvoll bleibst! Entscheide Du!"
"Wartet niemand auf Dich?"
"Hier? Nee! Du kannst mit mir machen, was Du willst - und keiner wird's merken!"
"Ich schon!"
"Ich komm mit zu Dir!"
"Ficken is' nicht!"
"Ich weiß." Sie gluckste.
Wie sehr er sich sehnte, mit ihr zu schlafen. Er konnte jetzt schon an nichts anderes mehr denken, als an den Moment des Triumphs, wenn er in ihre Möse Einzug hielt. Diesen geheimnisvollen Tunnel, diese Grotte, um die sich dann doch alles drehte. Der Eingang in den dunklen, warmen, weichen, feuchten Tunnel war der Beginn von allem. Von Liebe und Leben. Die Fotze ein fleischiges Symbol der weiblichen Macht. Sie hatten sämtliche Kontrolle über den Fortbestand der Spezies. Er stellte sich ihre Möse vor. Hoffentlich hatte sie ausgeprägte herausragende innere Schamlippen, die er zwischen seinen Fingern gleiten lassen konnte. Die er tief in seinen Mund einsaugen konnte, während er ihre Klitoris zwischen seinen Zähnen quetschte.
"Denkst Du grad an Sex?" fragte sie in die neon-geschwängerte Luft herein.
"Nein!" versetzte er heftig. Das alles würde ihn jetzt überfordern. Er würde alles falsch machen und sie verlieren. Natürlich!
"Schade!" murmelte sie.
Eine sprachlose halbe Stunde später lagen sie nebeneinander auf dem Queen-Size-Bed in seinem Hotel. Er hatte ihnen lediglich gestattet, sich der Schuhe zu entledigen.
"Ich bin echt gar nicht müde!" jammerte sie.
"Sei mir nicht böse, ich bin sogar zu müde, um Dich endlich nach Deinem Namen zu fragen!" Er blickte auf die Schuhe am Boden. Ihr linker blauer Rauleder-Samba drang mit der Schuhspitze in seinen linken grünen Nike ein.
"Und ich bin zu wach, um ihn Dir zu verraten."
"Toll! Dann bekommst Du bis auf weiteres den Projektnamen Tara verpasst."
"Ta... ra..." prüfte sie die Zweisilbigkeit. "Hört sich wie Quadrat an. And I am square, baby!" Sie gluckste, als sie den Arm über seine Schulter warf, um ihren Kopf auf seine Brust zu betten.
"Sex ist nicht, ne?"
"Ich glaub, ich mag Dich!" presste er eine Spur zu zittrig heraus.
"Ich weiß, mein Held!" murmelte sie.
Und begann nur einige Momente später gleichmäßig und ohrenbetäubend laut zu atmen.
Er genoss ihren Kopf über seinem Herzen hinter den Gitterstäben der Rippen, beobachtete sein Auf und Ab, während sich sein Brustkorb hob und senkte. Im von der Jalousie zerschlissenen Zwielicht der Straßenlaterne fand er sie wunderschön.
Scheiße, er hatte sich doch verliebt.
Und dieser Gedanke blieb auch dann hartnäckig, als ihr nerviges freches Schnarchen wenig Verständnis für seine Müdigkeit aufbrachte.
Ja, er war verliebt!