Während des Fluges nach Miami verlor er bereits das Gefühl für das Hinterlassene. Er verlor das Gefühl für das, was er meinte, gewesen zu sein. Er schaute aus dem kleinen Bullauge auf den nervös in Turbulenzen schaukelnden Flügel. Das regelmäßige Aufflackern des roten Positionslichts übte eine hypnotische Macht auf ihn aus. Und das war gut, konnte er sich so vom üblen Körpergeruch des extrem übergewichtigen Inders auf dem Nachbarsitz ablenken. Er presste sich an die Flugzeughaut, um zwischen sich und der Leibesfülle des fetten Inders, die vergorene Duftnoten ausströmen ließ, die größtmögliche Distanz zu schaffen. Bruchteile von Zentimetern. Der Inder schnarchte erbärmlich und es kam ihm vor, als würde er im Schlaf ganz neue Geruchcocktails zusammenmixen.
Was für eine Ansammlung von fleischigem Schrott war dieses Gefängnis von Körper nur. Nicht der Organismus gehorchte ihm, er gehorchte dem Organismus. War auf Gedeih und Verderb den Bedürfnissen und Fehlleistungen dieser Fleischhülle ausgeliefert. Die Kontrolle über die Körperfunktionen beschränkte sich gerade mal auf arg limitierte Muskelkonstraktions-Befehlsketten. Und wurden die frechen Bedürfnisse dieser Hülle nicht ausreichend befriedigt, quittierte diese kindlich beleidigt den Dienst.
Der Wille des Wirtes brach stets den Willen des Schmarotzers.
Wirtrecht bricht Schmarotzerrecht.
Schmarotzer im eigenen fremden Körper.
Die Geburt besiegelte bereits ein Leben in Gefangenschaft.
Und der unkontrolliert zu übelsten Gerüchen fähige Körper, ein Prototyp Gottes, mit tollen Greifwerkzeugen und Ausscheidungsöffnungen, dazu mit arg beschränkter Laufzeit, musste sich neuen Gefangenschaften ergeben. Allein die Fickerei war ein nettes Gimmick, wenn auch nur zur Arterhaltung bereitgehalten. Aber es waren seine besten Momente, wenn ihm Mädchen erlaubten, in sie einfahren zu dürfen.
Wobei der Geschlechtsakt an sich für ihn stets ein äußerst diffiziles Thema darstellte und regelmäßig den Anfang mieser kleiner Depressionsketten besiegelten. Sex, primär als Triebbefriedigung von der umgebenden Horde definiert, war für ihn das wichtigste Mittel eine tiefe menschliche Nähe zu generieren, die ihm zu lange vorenthalten wurde. Der Orgasmus, den er nie so erleben konnte, wie er im kollektiven Gedächtnis beschrieben wurde, löste zu oft ein dreckiges schmutziges Gefühl in ihm aus, ein bunter Strauß aus sündiger Schuld und trauriger Einsamkeit.
Diese Gedanken schob er beiseite, denn mit seinem Sex-Komplex hatte er bereits abgeschlossen, ohne dass ihn eine als notwendig ersehnte Katharsis durch erklärende gedankliche Hilfsgerüste zu Hilfe eilte. Er konnte jetzt zwar noch nicht sicher wissen, dass er bis zu seinem Klingentod auf jegliche Nähe zu verzichten hatte, fand diese Möglichkeit allerdings auch nicht mehr besonders schmerzhaft.
Er zog das transparente Plastikmesser aus dem Känguru-Beutel seines Kapuzen-Sweaters. Er hatte es nach dem sehr ökonomischen Economy-Dinner eingesteckt. Aus der Hosentasche angelte er sein Feuerzeug und begann die Schneide des Plastiks am Feuerstein zu schleifen und anzuspitzen.
Dabei beschäftigte er sich mit der Frage, ob er das Messerchen dem Inder in den fetten Wanst rammen oder zum blutspritzenden Streich durch die Kehle nutzen sollte.
Er war sich indessen schon fast sicher, dass der Inder als Mastschwein in der niedersächsischen Tiefebene reinkarnieren würde.
Besonders in diesem Moment, als sich der Fleischberg bedrohlich auf ihn zu neigte. Er schmiegte sich noch stärker an die Flugzeugwand. Das half nichts, als sich schließlich der schweißtriefende Schädel auf seinen linken Sweater-Ärmel senkte und Anstalten machte, sich hier wohlzufühlen. Damit war dann wenigstens entschieden, dass die neue Situation den Aktionsradius des Plastikmessers in seiner rechten Hand nur noch auf den schwülstigen Hals des Mastschweins beschränkte.
Das würde eine schöne Schweinerei werden, wenn das sicher unter Hochdruck malochende Fettherz das Blut durch die geöffnete Halsschlagader die Kabine in einem Blut-Sprühregen besudeln würde.
Und wie würde die Besatzung reagieren? Würden ihn gar andere Passagiere überwältigen, mit Kabelbinder fixiert in einer Toilettenkabine einsperren? Oder war gar ein Sky-Marshall an Bord, der ihn mit einem Tazer ordentlich Strom in den schmächtigen Körper jagen würde? Und die Cops in Miami? Und der Knast und die Gerichtsverhandlung? Würde ihn der Staat Florida nach Deutschland ausliefern? Gab's eigentlich noch die Todesstrafe im Sunshine-State? Spritze, Stuhl, Galgen? Und wie lange müsste er dem Tag seiner Hinrichtung im Todestrakt entgegenfiebern? Oder doch Freispruch wegen Notwehr? Würde man ihn abknallen, wenn er auf dem Boden der Tatsachen einen Bullen mit seiner tödlichen Waffe angriff? Das wär's - suicide by cop!
Diese Fragen erregten ihn zusätzlich zur unbändigen Furcht, die in ihm aufstieg. Wenn nicht jetzt, wann dann? Endlich die Fesseln der Zivilisation abschütteln und in der Evolution wieder zum Tier aufsteigen. Ein Wolf, der die Sau riss!
Und als niedersächsisches Mastschwein hatte der Inder ein würdigeres und beschützteres Dasein zu erwarten als in der Gesellschaft von Wölfen.
Er beobachtete die transparente Plastikklinge, wie sie langsam ihren Weg zur Inderkehle suchte und fand. Eine schöne Szene, wie das Schweinchen in seinem Arm schlummerte und gleich abgestochen werden würde. Da riss der dicke Mann die Augen auf, erblickte die schwebende Plastikschneide über seinem Hals, stieß einen gurgelnden Laut aus und richtete sich mit einem bei seiner Masse beachtlichen Ruck in seinem Sitz auf. Mit Entsetzen und müder Panik starrte er den blonden Jungen auf dem Nachbarsitz an.
"Just kiddin'"
"This is NOT funny!"
"Oh, I am so sorry, I am german!"
"I don't understand."
"I hate flying, I feel extremely bored!"
"That is no reason for threatening me!"
"I was just playing! I am so sorry, didn't want to scare you!"
"Okay! It's okay! But please, leave me alone!"
"Dann hör auf, mich hier vollzustinken und park Deine Hindu-Fratze jenseits der Armlehne, Du fettes Inder-Schwein!"
"Pardon?"
"Palimm, palimm!"
"I do NOT understand your german!"
"Oh, I thought. Just said how sorry I am and that I didn't mean to bother you!"
"Okay, whatever!"
"Whatever means in german: Jaja! And jaja means: Leck mich am Arsch!"
"..."
Das waren während des langen Fluges die einzigen Worte, die die Sitznachbarn wechselten. Nach einer halben Stunde quetschte sich der Deutsche an den Mitpassagieren vorbei auf den Gang und machte sich auf den Weg zu den WCs, wo einige Passagiere bereits ausharrten, um den beengenden Verhältnissen der kapitalistischen Sitzsituationen zu entfliehen. Einige machten die Dehnübungen, die im TV-Programm auf den Briefmarkenbildschirmen von minderattraktiven Engländerinnen lustlos empfohlen wurden. Andere unterhielten sich gedämpft über den einige Tage zuvor von einem mutigen Holländer während eines Fluges nach Detroit überwältigten Bombenattentäter aus Nigeria.
Er mischte sich ein: "Wenn hier so einer drinsitzt, hoffe ich, dass er genau neben mir die Bombe zündet, dann merk ich wenigstens gleich nix mehr!"
"Was sind Sie aber zynisch!"
"Ich krieg in Flugzeugen immer einen Koller! Diese Käfighaltung ohne Bio-Siegel! Wird schon nix passieren!"
Das Gespräch verebbte, nachdem man sich auf den Konsens geeinigt hatte, dass nach den extrem strengen Sicherheits-Checks in Heathrow alles sicher war. Dabei kam ihm eine Idee.
Nachdem er sich in dem klaustrophobisch bedenklich gestalteten Flugzeugklo einen runtergeholt hatte und mit unbefriedigtem Ärger registrierte, dass ein Spermafaden sich auf seinem linken Hosenbein anschickte zu verkrusten, wandte er sich an eine Stewardess. Mit der Besorgnis eines aufmerksam beobachtenden Fluggastes berichtete er mit höchst ernstem Unterton, dass er ein seltsames Gefühl wegen seines Sitznachbarn verspürte. Der hätte im Schlaf geredet und Alarmierendes von sich gegeben. Er hätte des öfteren das Wort "Bombe" vernommen. Wäre sich aber nicht sicher, ob der Inder vielleicht nicht doch von Bombay fabuliert hatte. Die Stewardess fragte nach der Sitznummer und bedankte sich artig für die aufmerksamen Beobachtungen. Aber es gäbe keinen Grund zur Sorge wegen der verschärften Sicherheitsbedingungen an den Flughäfen, fügte sie hinzu, bevor sie auf den Samenfleck auf seiner Hose aufmerksam wurde. Süffisant lächelnd ließ sie ihn stehen.
Mit schadenfroher Genugtuung registrierte er, dass sie nach der informativen Unterredung in ihrem Kabuff verschwand und angeregt auf den Chef-Steward einredete. Der wiederum machte sich an der Gegensprechanlage des Flugzeugs zu schaffen.
Er begab sich wieder auf seinen Sitzplatz neben dem mutmaßlichen Terroristen.
Während der Restflugzeit freute er sich diebisch darüber, dass das vorübergehende Personal immer wieder besorgte Blicke auf das fette Schwein neben ihm warf. Irgendwann verspürte auch der Inder einen gewissen Bewegungsdrang, ächzte sich schwerfällig auf den Gang und walzte in Richtung Waschräume. Die Stewardess, die gerade in der entgegengesetzten Richtung unterwegs war, erstarrte, als sie den Koloss wahrnahm, der ihr unerbittlich entgegen wankte. Hilfesuchend wanderte ihr Blick durchs Flugzeug. Die transpirierende Fleischmasse hatte sich unterdessen an ihr vorbeigepresst und reihte sich in die Schlange an den Waschräumen ein. Momente später fegte der Chefsteward durch den Gang und blieb hinter dem Fetten stehen, musterte seine Rückansicht ganz genau, röntgte ihn mit seinen Blicken und verschwand dann im Kabuff, aus dem wenig später die Stewardess schritt, die als erstes vom Terrorplan des Inderschweins unterrichtet wurde. Sie marschierte schnurstracks zum deutschen Informanten und fragte ihn verschwörerisch, ob sich der Inder in der Zwischenzeit an seinem Handgepäck zu schaffen gemacht hätte. Das konnte er glücklicherweise verneinen. Er solle unverzüglich den Chefsteward unterrichten, sollte etwas Auffälliges vor sich gehen, trug sie ihm auf. Und er solle ja nichts selbst unternehmen oder gar den Inder nervös machen. Einige Momente später kam eine Durchsage vom Chefsteward, dass alle Passagiere wegen Turbulenzen ihre Plätze einnehmen und sich anschnallen sollten. Aus Sicherheitsgründen sei es untersagt, die Toiletten aufzusuchen. Der Inder indes wartete noch immer in der Toilettenschlange und stampfte enttäuscht zurück auf seinen Sitz.
Auf indisch murmelte er düster vor sich hin, was eine Stewardess, die gerade Saft vorbeischubste, zusammenfahren ließ. Der Rest des Fluges verlief unspektakulär.
Am späten Morgen landete das Flugzeug im sonnig heißen Miami. Nach dem üblichen Chaos beim Ritual der ungeordneten Flucht aus dem flugtauglichen Gefängnis folgte der Deutsche dem Inder auf die Treppe. Unten waren zwei Uniformierte postiert, die den Übergewichtigen in einen auf dem Flugfeld abgestellten Van komplimentierten.
Ohne besondere Vorkommnisse passierte der deutsche Junge die Einreise-Hindernisse und ließ sich nach der Gepäckausgabe im Bus der Autovermietung zu seinem vorbestellten schwarzen Ford Mustang fahren.
Er freute sich auf sein erstes Hotel in Miami Beach und dachte den Rest seines Lebens nicht mehr an wiedergeborene Schweine in der niedersächsischen Tiefebene.