Oh Gott!
Der deutsche Junge aus Cuxhaven hatte sich in einem Budget-Motel in Cocoa Beach, Florida die Pulsadern aufgesäbelt! Er wusste aus einschlägigen Erfahrungsberichten (prä mortem), dass es am besten funktioniert, wenn man sich in warmes Wasser bettet. In Ermangelung eines warm eingelassenen Bades ließ er die Dusche einen lauen Wasserfall auf seine bleiche Haut schütten. Mit Schmerzmitteln wäre es erträglicher gewesen. Aber er wollte den Suizid old skool durchziehen.
Convenience suicide? Nee, nicht mit ihm. Die halbe Flasche Whiskey war stilechter. Und der Schmerz fühlbarer. Mit seinen 31 Jahren aufgeklärt genug, abgefuckt, war ihm ebenso klar, dass der Lebenswillen sich im finalen Moment ungefragt Gehör verschaffen würde. Er hörte mit den Rasierklingen in der Hand ganz genau zu, was "Eros" (vgl. Sigmund Freud) zu verkünden hatte. Er zwiebelte sich die Argumente aufmerksam rein. Als nach dem halbstündigen imaginären Redeschwall gespannte Ruhe im Kopf herrschte, hatte er sich die Worte bereits sorgfältig zurechtgelegt.
"Das soll Dir einer glauben!"
Ebenso sorgfältig war der erste Schritt des ersten Schnitts geplant. Er war sich der methodischen Lächerlichkeit bewusst, als er mit einem dünnen schwarzen Edding den Verlauf der Vitallinien seiner Adern nachzeichnete. Im TV lief Oprah Winfrey.
Er hatte sich sogar die klinisch perfekte Mühe gemacht, die Linien gestrichelt zu zeichnen. Freitod nach Zahlen. Der Bastelbogen auf der nackten Haut. Einer seiner größten Sorgen galt der Tatsache, im Vollsuff vielleicht daneben zu säbeln. Ausschneiden anhand einer vorgezeichneten Linie bereitete ihm zwar während der gedemütigten Kindheit im Kindergarten große Sorgen. Aber er hatte sich gestattet, durch entsprechende Lernprozesse, den perfekten Schnitt zu führen. Im Vollsuff. Für seinen autodidaktischen Suizid-Kurs auf gehobenem VHS-Niveau hatte er mindestens ein Dutzend Schweinehinterläufe bei verschiedensten Metzgern im heimischen St. Pauli zerschlissen. Stets in der peinlich kontrolliert gleichen Versuchsanordnung. Gestrichelte Linie, gezeichnet auf der entborsteten Schweinehaut. Mit wahnwitzigem Kurvenverhalten. Höchster Schwierigkeitsgrad. Dabei rissen seine Schlagadern medizinisches Fachpersonal regelmäßig zu unterdrücktem Jubel hin. Schön klar abgezeichnet wölbten sich die Lebenslinien unter der Haut seines rechten Innenarms wie dicke Gartenschläuche. Eine Wonne beim Blutabnehmen.
Er konnte kein Blut sehen. Schaute immer geflissentlich an die Decke, wenn es leicht piekste und das Ambrosia abgemolken wurde.
Er hatte die Schnitte einfach drauf, mit traumtänzerischer Sicherheit zerschnitt er die letzten fünf Schweinehäute in chirurgischer Präzision. Ohne Hingucken!
Gelernt ist gelernt, dachte er sich, unter der warm laufenden Dusche im schwülen November-Florida sitzend. Er leistete sich ein letztes stolzes Grinsen ob seiner selbstmörderischen Premium-Ausbildung.
Eigentlich wollte er seinem todesaffinen Leben sechs Jahre zuvor ein Ende setzen. Der Plan war ebenso ausgeklügelt wie konsumgerecht. Als er nach dem Verlust seines ungeborenen Kindes, das er über dessen ungeborenen Tod hinaus innig liebte, seines Studienzieles (pikant: Diplom der Psychologie) - und vor allem dem Scheitern der letzten großen Liebe (PATHOS, wie immer!) - dem irdischen Dasein entfliehen wollte, scheiterte der Plan des Thanatos an lächerlichen Prozess-Schwierigkeiten.
Der Plan: "Ich rase mit einem weißen Ford Mustang über die Klippe des Grand Canyons und verlasse das Diesseits in einer filmreif exaltierend feurigen Explosion."
Die Prozess-Schwierigkeit: 1. Die Grand-Canyon-Klippen-Steinwälle. 2. Das Wunder des Grand Canyons vermittelt temporär "Eros" (Lebensenergie), blöd für den naiv willigen Freitodler.
In Florida sechs Jahre danach war der Tod allgegenwärtig. Untote Rentner verzweifelten an ihrem lebensunwürdigen Jugendwahn. Sechs Jahre älter wusste der 31jährige Junge, dass er keine Lust mehr hatte, sich seiner Vergangenheitsbürde zu entziehen. Er stellte sich schließlich seinen diabolisch (debil) grinsenden Dämonen. Den wankelmütigen Wichsern.
Letztendlich dann doch überraschend einfach und profan penetrierte die Rasierklinge den schwarzen Edding-Startpunkt. Relativ gering die Mühe in der Jim-Beam-seligen Betäubung, die gestrichelte Schweine-Schwarten-Strichellinie entlangzuzeichnen.
Er war sogar stolz darauf, die Kollateral-Schäden im Vornherein bedacht zu haben. Für die illegale Raumpflegerin aus Mexiko ohne Sozialversicherungsnummer hatte er präventiv einen Briefumschlag neben die Dusche drapiert. "I am sorry for you seeing this. Find enclosed some pain-relieving help!" Seine letzten 4000 Dollar sollten ihr und ihrer Familie über den Schock im Angesicht des Todes hinweghelfen.
Und dazu hatte er jetzt kein Problem, seinen roten Lebenssaft im vom warmen Wasser hellrot gefärbten Strudel in die Abflussfotze hineinwabern zu sehen.
Er hatte Gott besiegt! Und traf bald Nietzsche.
Das Blut pulsierte mit 120 beats per minute (my HOUSE is your HOUSE) aus der klaffenden Ritze.
Und da wurde er übermütig. Durch die viel zu leicht genommene Barrikade des schier unüberwindbaren Lebenswillens, einem schwächlichen Daueroptimisten mit dünnem Nervenkostüm, trumpfte er auf.
Er erinnerte sich nämlich unvermittelt an (Tim Burton's) Sweeny Todd's Klingenführung. (Exkurs: Geil, geil, geil! Denn Johnny Depp durfte die Rakete mit Hunter S. Thompsons selbstgegrillter Asche zünden. Er liebte Johnny Depp. Er liebte Hunter S. Thompson ["No More Games. No More Bombs. No More Walking. No More Fun. No More Swimming. 67. That is 17 years past 50. 17 more than I needed or wanted. Boring. I am always bitchy. No Fun -- for anybody. 67. You are getting Greedy. Act your old age. Relax -- This won't hurt."]. Er liebte Johnny Depp als Hunter S. Thompson Und Terry Gilliam allemal.)
Also zog er sich die Klinge noch mal fein säuberlich horizontal durch die Kehle.
Scheiße, kein Spiegel! Wie erhaben wäre es im Moment des Ablebens gewesen, das Gesicht des ersten Mordopfers durch eigene Hand zu erblicken.
Man konnte eben nicht alles im Voraus planen. Profan dieser Gedanke im Moment der ablebenden Erleichterung.
Langsam ergraute der Blick. Der letzte Vorhang fiel noch langsamer. Er verneigte sich vor dem imaginierten Publikum. Er fiel vornüber.
Die letzte Dunkelheit nahm von ihm Besitz.
Er war angekommen.
Endlich!
Und der Rückflug verfiel. Zum letzten Mal!