"Macht kaputt, was Euch kaputt macht" - die sonore Stimme des in jüngerer Vergangenheit der pietätslosen Leichenfledderei zum Opfer gefallenen Kombo Rio Reisers reißt mich endlich aus der Lethargie. Fast wär ich auf allgemeingültige Regeln hereingefallen: Lohn für Selbsterniedrigung.
Ja, der Dörte Bietz würde sagen: "Wisch den Pathos aus meinem Gesicht!"
Er ist eine Frechheit. Der Job... Klar, was sonst?
Vorgestern 7 Stunden voller Erniedrigungen.
Was war passiert?
Der Nil$en hatte mit einem Kollegen die Schicht getauscht.
Warum das bloß?
Dort im Call-Center, in der City Nord, in die ich nur unbehelligt und angstlos gelange, wenn ich pro Arbeitstag 4,90 Euro an den HVV entrichte, gibt es ein "Stunden-Buchungs-System"!
Beim Einstellungsgespräch: "Du (wir MÜSSEN uns dort auch mit Vorgesetzten duzen - was distanzloses Gefangenendasein simuliert und eine Nähe vorheuchelt, die mich in Kritiklosigkeit ob des tollen Arbeitsklimas einlullt) darfst Dir Deine Schichten selbst aussuchen, weil wir natürlich Rücksicht auf akademische und private Verpflichtungen nehmen!"
Hört sich toll an.
Die Realität sah bis jetzt so aus: Der Tante, die die Schichten zuweist, ist es nicht EINMAL gelungen, seitdem ich dort arbeite, auch nur einen Tag peripher zu streifen, den ich verfügbar bin. "Ist so, geht nicht anders!"
Okay, eine unmögliche Schicht getauscht - der Team-Manager segnet alles ab.
Nun komme ich am Donnerstag um 15 Uhr an, will meine getauschte Schicht antreten.
Siehe da, ich bin in keinem der beiden Buchungssysteme für diesen Tag vermerkt. Das heißt, dass ich, solange ich mich nicht einbuchen kann, auch nicht gearbeitet habe.
Also bitte ich den Team-Manager ("Achte auf Deine Produktivität"), mich von Hand einzubuchen.
Einmal...
Zweimal...
Dreimal...
Nachts um 22 Uhr ist Feierabend, doch seltsamerweise sagt mir das Buchungssystem, ich hätte nicht gearbeitet!
An sich kein Problem, denke ich mir, kann er ja nachbuchen.
"Pustekuchen!", sagt ein Kollege. "Morgen ist Feiertag, man kann Dich nur bis zu einem Tag danach nachbuchen. Jetzt musst Du nächste Woche zum Personalbüro und NACHWEISEN, dass Du gearbeitet hast, sonst bekommst Du keinen Lohn. Das passiert hier öfter - der Produktivität wegen ist es für die Firma natürlich toll, wenn Mitarbeiter auch unbezahlte Schichten machen."
Lieber Call-Center, mit Verlaub, Du bist ein kapitalistisches Arschloch! Ich hasse Dich!
Daneben werde ich von mobbingwilligen Mitarbeitern noch angepisst, weil ich ohne die versprochene Schulung an den Geräten, die ich für die Anrufer (1,24 Euro die Minute) und mit den Anrufern einrichten muss, dementsprechend kein entsprechendes Fachwissen hab! Ich darf dem Kunden NICHT merken lassen, dass ich genauso doof vor dem Problem steh wie er! Gebe ich das zu, verstoße ich natürlich gegen faschistisch schwammige "Produktivitätsvorgaben". Es müsste so aussehen: Ich halte den Kunden minutenlang hin, suche irgendwo im Internet oder in versteckten und schlecht aufgebauten Bedienungsanleitungen nach Lösungswegen - Lösungswege, die der Kunde selbst nicht anhand seines Handbuchs nachvollziehen kann!
Der Teamleiter sagte damals: "Dann frag einfach einen Kollegen!" Würde ich doch nur zu gerne - aber wenn alle eifrig in ihre Headsets reinmurmeln, mag ich auch nicht stören...
Heute um 13.30 Uhr darf ich wieder bis 22 Uhr dort ausharren. Telefonierend und manchmal bis öfter ohne Checkung, was ich dem frustrierten und finanziell abgezogenen Kunden erzählen soll. "Ja, in Hamburg ist das Wetter gerade voll schön. Verstecken Sie morgen viele Ostereier?"
Währenddessen werden meine Gespräche abgehört - vom Auftraggeber der "outgesourceten Second-Level-Support-Leistung" und intern von der Qualitätssicherung. Ich werde eine schlechte Bewertung bekommen, eventuell werde ich zu einem persönlichen Gespräch gebeten, WARUM IN ALLER WELT ich so einen Mist am Telefon mache, warum ich den hochdotierten und auf - YES - PRODUKTIVITÄT ausgerichteten Auftrag gefährde!
Ich übergebe mich gerade das zweite Mal - ist normal, seitdem ich den Job habe. Vor März und Jobantritt habe ich meinen nicht vorhandenen Mageninhalt das letzte Mal vor 13 Jahren entleert. Inzwischen vor und manchmal auch während der Call-Center-Schichten!
Ich will da raus. Ich will zum Monatsende kündigen.
ICH MUSS DA RAUS!
ABER die Frage, die nicht den Segen einer zufriedenstellenden Antwort erfährt, ist nach wie vor: UND DANN?
Ohne Geld ist nix! Ohne Geld kann ich meinen Plan, mein Psychologiestudium im Oktober wiederaufzunehmen, gleich in die Tonne mit der Aufschrift "Unerfüllbare Träumereien" kloppen. Ich mein, woher soll ich 800 Euro Studien- und Semester-Gebühren herzaubern? Ich mein, woher soll ich die Miete für mein asoziales 15-qm-Loch in Höhe von 275 Euro herzaubern? Ich mein, welche Organe soll ich denn bloß verkaufen, um Nahrung zu beschaffen?
Doch arbeitslos und damit im sozialen System als "Bedürftiger" und "Er kriegt das selbst nicht hin, wie jämmerlich!"-Verlierer melden?
Mal eben das Gefühl der Selbstwirksamkeit und damit auch das Recht auf Selbstbestimmung und gesundes Selbstwertgefühl auf Halde werfen?
Damit neuerliche psychosomatische Krankheitsbilder dem Hausarzt, dessen Rechnung ich kaum bezahlen kann, unterbreiten?
Okay, zahlt dann der Staat - das wäre natürlich prima!
Aber ist das nicht dann der Teufelskreis, dessen man sich unglaublich schwer entledigen kann, wenn man sich erstmal auf ihn einlässt?
Ich will einen Job! Ich WILL arbeiten! Aber ich will SO arbeiten, dass ich nicht krank werde. Ich will SO arbeiten, dass ich ab und zu - pathetische - Momente des Glücks und der Sorglosigkeit wenigstens erahnen kann!
"Dann änder was und jammer nicht nur rum!"
Klar, es gibt immer noch unbegrenzte Möglichkeiten im nie versiegenden Wohlfahrtsstaat.
Vielleicht sollte ich mir auch nur etwas Demut antrainieren oder mich dazu selbstverleugnend zwingen, um endlich eine gewisse Hörigkeit den Worten von Wirtschaftsweisen gegenüber an den Tag und die Nacht zu legen.
Legale und den Geldfluss im Staatshaushalt ankurbelnde Drogen haben mir jedenfalls nicht geholfen. Auch nicht illegale...
Und dann komme ich heute morgen zu meiner Wohnung und stelle fest, dass jemand versucht hat, bei mir einzubrechen, um mir auch noch mein letztes unversichertes Hab und Gut zu entwenden.
Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass es ihm/ihr noch etwas schlechter geht. Oder sind die Marktpreise für Heroin gerade in der Osterzeit dramatisch gestiegen?
Was mach ich hier eigentlich?
Ich bin erneut auf Jobsuche.
Selbständigkeit hört sich sooo toll an, dass ich vom Schein dieses Euphemismus dermaßen geblendet bin und mitmachen will!
Meld Dich mal persönlich bei mir wegen Strategien oder erstmal "Brainstorming"...
Veränderungen fordern Anpackung... Oder so ähnlich...
Hau da ab, bevor du stirbst!
Ich bin zum Glück abgehauen, und es wurde besser.
Du schaffst das, gib nicht auf! Es steckt sooooviel in dir, zeigs mal allen!