Er lief allein auf dem weißen Sand. Als würde eine Kamera ihn hinterrücks einfangen. Er fühlte jede einzelne Fußspur, die er auf dem vom Wind wellig geriffelten Strand hinterließ. Er konnte seine Fußabdrücke nicht sehen, nicht mit seinen Augen. Aber hinter sich spürte er das Hinterlassene. Je weiter er sich von einem Abdruck entfernte, desto deutlicher fühlte er ihn. Sie wuchsen in der Entfernung. Sie erhoben sich wie schmale massive Granitfelsen. Hinter ihm, über ihm. Und waren doch nicht zu fassen. Dann erreichte er die Fußspuren der anderen. Chaotisch, ungeordnet, ja, ziellos! Er zögerte kurz. Zu kurz, bevor er sich in die Massenwanderung einreihte. Kein Mensch weit und breit. Vor ihm die ungeheure Breite des tiefen Blaus. Das war die Kinderstube des Atlantiks, unschuldiges Plätschern, bis auf den Grund zu durchschauen. Kein aufgewirbelter Sand, keine schlierenden Algen. Er überlegte, ob er Spuren hinterlassen sollte, dort wo das Wasser sie sofort aufsog. Oder direkt am Saum zwischen Wasser und Land, der unsichtbaren Grenze. Die Spuren des rechten Fußes für immer verloren, die des linken für kurze Zeit hinter ihm wachsend. Er verharrte. Er starrte. In die Unendlichkeit des Horizonts. Der Kontrast zwischen den beiden Blaus, dem des Meeres und dem des Himmels, war trennscharf. Weiß, blau, blau. Einem plötzlichen Impuls folgend ließ er sich fallen, schlug überraschend hart und dumpf auf dem Sand auf, der sich unter ihm augenblicklich verdichtete. Wie viele Sandkörner auch unter ihm liegen mochten, zusammen ergaben sie eine höhere Dichte als sein Körper. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Denn es war der Gedanke der Unmöglichkeit einer erfolgreichen Flucht!
Dabei war ihm noch nicht einmal klar, was die Flucht war, welchem Zweck sie diente, wohin sie ihn führen konnte. Vor allem wusste er nicht, wovor er fliehen sollte! Wie würde es sich anfühlen, wenn plötzlich sämtliche Fußspuren mit Leben erfüllt würden? Wenn all ihre Besitzer unendlich-fach auftauchen würden, wenn jede ihrer Bewegungen in Momentaufnahmen massiert erscheinen würde. Würde ihn das Gewicht der tragenden Spuren unter ihm erdrücken? Die Luft zum Atmen nehmen?
Die Adern zerquetschen, die Blutzirkulation erwürgen.
Er blieb liegen. Er schaute ins Himmelblau. Er nestelte in seiner linken Jeanstasche, erfolglos. In der rechten Hosentasche fand er den iPod. Gefühlte Minuten dauerte es, bis er das Kabel-Wirrwarr zur Ordnung gerufen hatte, mit sanfter Gewalt. Die Ohrstecker waren so ausgelegt, dass sie den Gehörgang komplett abschlossen. Dazu mussten sie jedoch perfekt passen. Das rechte Ohr machte keine Probleme. Es war das linke Ohr, das nicht passen wollte. Es ließ nicht zu, dass der Stöpsel sich anpassen konnte. Er verlor schnell die Geduld und rammte das Teil tief in den Gehörgang. Er spürte den Unterdruck, der nun am Trommelfell zerrte, da der Stöpsel inzwischen Fluchttendenzen nach außen entwickelte.
Portishead passt, dachte er, als er vor seinen in die Höhe gerichteten Augen die Playlisten durchblätterte. Portishead passt eigentlich immer.
Er war am Meer aufgewachsen. Nicht an diesem. Nicht in der plakativen Coolness des amerikanischen Atlantiks. So geil präsentierte sich Florida nun auch wirklich nicht. Der amerikanische Traum war längst in Rente gegangen – und hauchte hier angeschlossen an Beatmungsgeräte sein Leben aus.
Er war an der Nordsee aufgewachsen, an der Elbmündung. In einer Stadt, die ihm als Albtraum eingebügelt wurde. Kein Abziehbild. Ein Bügelmistding, das tief in die Haut einbrannte, weil das Bügeleisen während des dreiwöchigen Urlaubs der Besitzer auf voller Pulle alles zusammenschmolz. Voll falsch motivierter Eigendynamik in Hirn und Herz eingeschmaucht.
Und eben diese Eigendynamik befeuerte sich stets selbst. Waren die Gitterstäbe des einen Gefängnisses dramatisch auseinanderaddiert, plumpste der Sack Mensch, den er in seinen Gedanken manifestierte, in die nächste Zelle. Und nach der Flucht in die nächste. Kreisflucht. Fluchtkreis. Vorausgesetzt, er ignorierte das individuenimmanente Gefängnis geflissentlich.
Portishead erwiesen sich als zuverlässiger Partner. Einmal mehr. Die vorprogrammierte Tränenflüssigkeit tropfte den weißen Sand grau. Pathetische Tränen. Pathetische Fußspuren-Monumente, die nicht in sich selbst zusammenfielen, sondern hinter ihm her zermalmten, was sie von ihm zu fassen bekamen.
Die Shuffle-Funktion, die er vergessen hatte auszustellen, zerrte ihn unvermittelt in die Vergangenheit. Zu Metallica’s „... and justice for all“ entwickelte er einst zaghafte Ausbruchs-Pläne im mittleren Teenager-Alter. Er gestattete sich, die Augen wild aufzureißen. Sechs scheinheilige Jahre zuvor lag er doch schon mal am Strand, nur am anderen Ozean, auf dem Positiv der gespiegelten Längsachse der USA. Am Pazifikstrand. Im wilden Westen, am Big Sur, in Kalifornien.
Ach Scheiße, dachte er unkommod, die Revolution hatte nur die Vorzeichen umgedreht. Und aus dem Positiv war er ins Negativ geflohen. Er wuchtete sich hoch, ließ heimlich beschämt die Granitfelsen hinter sich zerbröseln und wankte zum Ford Mustang. Dieser hier war schwarz und ein Cabrio. Der in Kalifornien war weiß und kein Cabrio. War St. Pauli das Negativ zu Wuppertal? Definitiv nicht.
Aber das Innere, die Weichteile schon. Die Lunge von sechsjährigem Tabak-Teer geschwärzt.
Die Seele blieb indessen stets schwarz.
Er bestieg den Mustang und ritt unter dem atlantischen Sonnenuntergang zurück zum Motel. Er soff die Flasche Whisky aus dem Liquor-Store von nebenan am Highway noch vorm Schlafengehen halb leer. Morgen war’s vorbei.
Nicht die Kamera hatte ihn hinterrücks eingefangen, sondern der Dolch frontal. Der Dolch, preisbewusste Rasierklingen aus dem Twenty-four-hours-Drugstore. Weder Portishead noch Metallica lieferten den Soundtrack. Der letzte Pathos, den er sich leistete, war die gescheiterte Revolution. Mach kaputt, was dich kaputt macht.
Rot ist das neue Schwarz-Weiß!
Und der Rückflug verfiel. Dieses Mal zum ersten Mal.