Mittwoch, 10. Februar 2010Kapitel 8: Der Bambi-Bastard
Sobald er erwachte, stellte sich ein fettes wattiges surreales Gefühl ein.
Er brauchte einige Momentbruchstücke, um sich ordentlich zu verorten. USA, Florida, Miami Beach, Hotelzimmer. Und noch ein Paar rostige Gedankenblitze später wurde er sich der Tatsache bewusst, dass er schon einige Stunden nach dem Verlassen der Gangway nicht mehr allein war. Jetzt allerdings schon. Das Bett neben ihm war leer. Schade, dachte er. Er versuchte, sich in süßer Gleichgültigkeit zu wälzen. Wälzte sich aber nur auf der Liege und bemühte sich, dem steigenden inneren Druck nachzugeben. Verdammt, er hatte doch alles richtig gemacht, um heulen zu können. Er hatte seine große Liebe nach der ersten sexfreien Nacht verloren. Die Tränen waren zu träge. Sie warteten ab. Auf einen zwingenderen Aufforderungscharakter. Ihm fiel nichts ein, um sich dramatischer Flennerei ergeben zu können. Scheiße, wo war sie denn jetzt? Sich in Frauen mit spritziger Spontaneität zu verlieben, ging doch immer nur schief. Okay, was war falsch gelaufen? Hatte sie von ihm erwartet, dass er mit ihr schlief? Aber hätte er mit ihr geschlafen, wäre er in der gleichen verlassenen Situation wie jetzt noch deprimierter. Dann wäre der verheerende Sex-Komplex aufgebrochen. Eine größere Demütigung, als nach dem ersten Sex von der Partnerin fluchtartig verlassen worden zu sein, gab's momentan nicht. Wenigstens das hatte er richtig gemacht. Oder falsch gemacht? Vielleicht war sie ja gar nicht weg. Vielleicht kam sie gleich wieder. Sie hatte doch sicherlich ne Nachricht hinterlassen. Er machte sich auf die Suche. Nirgends ein Zettel, auf dem Badezimmerspiegel keine Lippenstift-Schmierereien mit dämlichem Bussi-Tattoo. Sie trug ja eh keinen Lippenstift. Vielleicht in der unerlässlichen Bibel in der Nachtschränkchenschublade. Er blätterte jede einzelne Seite durch. Nix! Keine Kritzelei. Jetzt bloß nicht der Versuchung nachgeben, irgendeinen Scheiß spontan zu lesen. Dann würde sich die nächste Versuchung einstellen, die darin bestand, das zufällig gewählte Gelesene mit dramatischer Schicksalshaftigkeit für den Moment zu versehen. Mit Gottes Wort war er sowieso längst durch, seitdem ihm die Zeugen Jehovas in seinen kleinen Jungenarsch gefickt hatten. Im übertragenen Sinne. Oder hatte sich doch irgend etwas Unverarbeitetes im Unbewussten verschanzt? Mit Reminiszenzen an die verlorenen Sektenjahre konnte er sich noch immer später aufhalten. War sie gläubig? Glaubte sie an einen dämlichen Gott? Hoffentlich nicht so ne Katholiken-Fotze. Oder Evangelen-Schlampe. Mann, er würde jetzt sogar darüber mit ihr reden wollen. Hauptsache, er könnte ihre Stimme hören. Und ihr in die Augen schauen. Vorm Einschlafen hatte er noch gehofft, sie am Morgen ohne den kaschierenden Sweater betrachten zu können, wenn sie halbnackt aus der Dusche stolperte. Wenigstens würde er nun keine schnarchbedingt schlaflosen Nächte mehr haben. Wo war sie? Scheiße! Wie spät? In zwei Stunden musste er ausgecheckt haben. Eine weitere Nacht konnte er sich in diesem miesen Hotel nicht leisten. Scheiße, Scheiße! "Is there any message left for me?" fragte er fernmündlich die Rezeptionistin. "Sorry, nothing, Sir!" Scheiße, Scheiße, Scheiße! Erstmal duschen. Sie hatte zwei Stunden Zeit, um zurückzukehren. Hoffentlich brachte sie Kaffee und Frühstück mit. Hoffentlich hatte sie keinen Zucker in den Kaffee geschüttet. Er hasste Zucker im Kaffee. Brauchte aber Milch. Hoffentlich hatte sie fettarme Milch reingegossen. Und vor allem musste es ein großer Becher sein. Unter der Dusche heulte er dann doch noch. Ungeplant und unmotiviert. Warum gerade jetzt? Keine solitären salzigen Rinnsale auf der Wange. Jeder Tränenbeweis gleich weggespült vom Chlorwasser. Natriumchlorid ergab das. Also nur Salz. Schade, dass die Tränen-Chlorwasser-Verbindung keine Chlorwasserstoffsäure produzierte. Das Salzsäurebad würde ihn komplett auflösen. Keine Spur mehr von den Dämonen, die ihn heimsuchten. Schon wieder verließen die Gedanken die von ihm kontrollierte Zone. Jetzt nicht durchdrehen, nicht verlieren. Er schlug den Kopf gegen die Kacheln. Kein Effekt. Er sank in sich zusammen, ließ das Wasser auf seinen Körper fallen. Er zog die Beine an die Brust und umklammerte sie. Kontrolle. Kontrolle! Der Florida-Urlaub war als großes Kontroll-Rückgewinnungs-Projekt angelegt. Warum hatte er sich nur anquatschen lassen? Jede emotional unterfütterte Zwischenmenschlichkeit war jetzt und hier zuviel. Der Verlust des Ziels neuer Liebesgefühle trieb ihn schon wieder Richtung Suizid. Die Reise sollte doch die Befreiung bedeuten. Das hatte sechs Jahre zuvor in Kalifornien prima geklappt. Was für eine Lüge, nichts hatte geklappt, jede noch so mikroskopische Unebenheit auf dem verworrenen Lebensweg bedingte selbstmörderische Verhaltensvorschläge. Vor, nach und sogar während Kalifornien. Florida war jetzt schon ein Desaster! Hatte er doch eh geahnt! Fuck! Er zog die Zehen hoch. Die Spannung in den Füßen schmerzte. Er zog die Füße zusammen, die Zehen verkrallten sich. So durfte sie ihn auf keinen Fall sehen! Er war stark. Und hatte keine Defekte. Nein, er war gesund. Vollkommen gesund. Scheiß auf Borderline! Scheiß auf kindischen Selbstmord! Er schrie sich an! "Jetzt komm zurück!" Er erschrak. Wäre sie im Zimmer, hätte sie ihn gehört. Ach, alles Quatsch. Er schluckte hart, richtete sich auf, drehte das Wasser ab, stieg aus der Kabine und ließ das weichspülerresistente Handtuch seine Haut abschleifen. Das konnte er doch leicht rational lösen. Ja, er konnte das! Ganz sicher! Nichts leichter als das! Aktionismus! Gab's ne Möglichkeit, sie zu finden? Noch anderthalb Stunden bis zum Check-Out. Er schmiss sich in ein T-Shirt, zog seine Bermudas und Nikes an und rannte zum Strand. Schon von weitem war zu bedauern, dass nur der Rettungsschwimmer allein das Pfahlhäuschen okkupierte. Der Strand überraschend leergefegt. Er rannte zurück. Hoffentlich war sie in der Zwischenzeit nicht da gewesen und wieder verschwunden, weil er fehlte. "Did you see a girl? Brown hairs, brown eyes, white sweater!" "I am sorry, Sir!" zuckte die Rezeptionistin mit den Achseln. Noch eine Stunde bis zum Check-Out. Er brauchte dringend Kaffee! Viel Kaffee! Mit fettarmer Milch im korrekten Mischungsverhältnis. Warum brachte sie ihn nicht endlich? Er versuchte die Zeit gedankenlos zu verbringen, während er den Koffer zur Abreise vorbereitete. Davor rasierte er noch gründlich seinen Schambereich. Die Minutenzahlen wechselten sich auf dem Digitalwecker neben dem Bett ab, in dem sie ohrenbetäubend auf seiner Brust eingeschlafen war. Im TV liefen Nachrichten. Barack Obama hatte die Wahl des Vortages gewonnen. Toll, endlich ein Neger als Präsident! Mit geiler Gattin! So schlecht war Amerika nicht. Oder sie hatten sich einen perfekten Sündenbock gesucht, um die Versäumnisse und Sünden der Bush-Regierung an der schwarzen Minderheit abzuarbeiten. Was für ein dummgeiles Volk diese Amis doch waren. 11:57, 11:58, 11:59. 12:00 checkout! Er zahlte resigniert die erste Nacht. Dann kam ihm die Idee, ihr eine Nachricht an der Rezeption zu hinterlassen. Er suchte in seiner Umhängetasche nach seiner Kladde. Er wühlte sämtlichen Inhalt heraus. Die Kladde war weg. Er öffnete seinen Koffer, durchwühlte ihn. Die Kladde war weg. Sie hatte ihn bestohlen! Geistiger Diebstahl! Dieses miese geile Dreckstück! Sie würde sein Jahrhundertwerk veröffentlichen und wäre eine gemachte Frau. Egal, er verlangte nach einem Zettel und kritzelte: "Tara! Du hast mich bestohlen! Rück das Diebesgut wieder heraus und Dir wird nichts passieren! Ich finde Dich! Falls Du mich vorher finden willst, dann heute abend um 6 an unserem ersten Treffpunkt! Und: Komm allein! Der namenlose Held" Nachdem er die Hoteltante instruiert hatte, wankte er auf den Hotelparkplatz und verstaute seinen Koffer im viel zu kleinen Kofferraum des schwarzen Ford Mustang Convertibles. Er startete den Motor, öffnete das Verdeck und setzte zurück. Bevor er auf den Highway einbog, berührte er versehentlich den Scheibenwischerhebel. Im Augenwinkel sah er etwas unter den aufgescheuchten Wischerblättern davonfliegen. Einen Zettel. Er stürzte aus dem Mustang mitten auf die Straße, dem im Fahrtwind der vorbeifahrenden Autos tanzenden Zettel hinterher. Reifen quietschten, Hupen hupten. Und er reckte im entstehenden Verkehrsstau stolz seine Trophäe in die Höhe. Ein Zettel, seiner Kladde entrissen! "Mein Held! 1 pm am Freiheitsturm! Damit Du wirklich kommst, habe ich eine Geisel! Komm allein! Mag Dich auch! Dein Projekt Tara P.S.: Du schnarchst fürchterlich!" Er zerrte den Reiseführer aus der Umhängetasche. Die Karte von Miami empfahl ihm, der A1A über die Collins Avenue südlich zu folgen, über den Mac-Arthur-Causeway Miami Beach zu verlassen, schön am Hafen entlang, um dann in Miami einzufahren. Nur 20 Minuten bis zum Freedom Tower, schätzte er. Perfekt, die Uhr blinkte "12:32". Er passierte die Hotelungetüme, kam durchs crème-farbene Art-Déco-Viertel, bog auf die lange Brücke Richtung Downtown. Auf der linken sterile Kreuzfahrt-Gefängnisse, auf der rechten die Bonzen-Inseln von Hibiscus-Island, rechteckig vermessen. Vor ihm die gläsernen Blöcke der Skyscraper-Skyline. Schräg links vorn verschwand zwischen den maßlosen Mammutbauten die amerikanische Geschichte des mediterranen Freedom Towers, das gegenwärtig bescheidene Monument der kubanischen Einwanderung. "12:44" Er tauchte mit seinem offenen Mustang in die Häuserschluchten ein. Vor ihm ragte nun der Turm. "12:51" Sie stand schon an der Ecke Biscayne Boulevard, Port Boulevard. Sie trug ein enges grünes Top, eine enge ausgewaschene Jeans und einen alten roten berstenden Lederkoffer. Sie sah geil aus, schlank, die Brüste stachen vorlaut heraus. Den Koffer warf sie auf den Rücksitz, als er am Straßenrand hielt, und ließ sich neben ihm nieder. Sie küsste ihn auf die Wange. "Du bist zu früh!" "Besser zu früh, als dass der Held zu spät das Schlachtfeld erreicht!" "Wohin entführst Du mich jetzt?" "Wir fahren auf die Keys!" "Key West ist Scheiße!" "Key West interessiert mich nicht! Ich will Key Deers sehen!" "Key Deers?" "Naja, das ist ne besondere Art von Hirschen, die nur auf zwei Keys vorkommen. No Name Key und Big Pine Key. Das ist ne Unterart der nordamerikanischen Hirsche. Weißwedelhirsche heißen die Ami-Hirsche. Und die Key Deers sind kleinwüchsigere Weißwedelhirsche. Die waren mal fast ausgerottet, wurden dann aber wieder nachgezüchtet. Hab gelesen, dass es jetzt um die 300 gibt. Und eben nur auf den beiden Inseln." "Weißwedelhirsche. Grandios! Woher weißt Du das?" "Hab ich auf dem Flug hierher im Reiseführer gelesen. Ist doch ein geiler Gedanke, dass es diese Zwergen-Deers nur auf zwei Keys gibt. Und sonst nirgends!" "Hat was. Also lass uns Bambis jagen!" "Nein, das sind keine Bambis! Kennst Du nicht die Bambi-Lüge?" "Was?" "Die Bambi-Lüge! Geht darum, dass Rehe und Hirsche nicht die dieselbe Tierart sind. Also in der Original-Bambi-Geschichte ist Bambi ein Reh. Hat ein Autor aus Budapest geschrieben. Und in Europa gibt's Rehe, in Nordamerika allerdings nicht. Nur Hirsche. Weißwedelhirsche! So hat Disney aus den Rehen Hirsche gemacht, weil Hirsche kennen Ami-Kinder, europäische Rehe nicht! Und als das Ganze dann zurück ins Deutsche übersetzt wurde, wurden aus Bambi und seiner Mama wieder Rehe, der Vater allerdings wurde als Hirsch bezeichnet. Aber in der Natur ficken Rehe und Hirsche eben nicht miteinander. Und vor allem nicht hier!" "Geil, die Bambi-Lüge!" Sie gluckste. "Das heißt dann, dass Bambi gar nicht existieren kann in Amerika?" "Rein technisch nicht. Doch vielleicht haben irre Wissenschaftler Rehe mit Hirschen gekreuzt. Und die Mutationen, die dann herauskamen, sind Bambi-Bastarde. Und das ist vielleicht die Erklärung dafür, warum es diese Key-Deers nur auf zwei Inseln gibt. Das sind Bambi-Bastarde!" "Geil, gehen wir also doch Bambi jagen, diesen miesen kleinen Bastard!" "Ich brauch dringend einen Kaffee! Dringendst!" "Hmm. Ich glaub, Du bist ein Hirsch und ich ein Reh!" "Dann passen wir aber so gar nicht zusammen!" "Und das ist uns scheißegal. Wir besiegen die Natur!" "Glaub ich weniger! Aber egal, brauch Kaffee! Wenn Du mir nen Kaffee bestellen würdest, was für einen würdest Du nehmen?" "Scheiße, Alter, das setzt mich jetzt richtig unter Druck! Wenn ich jetzt die falsche Zusammensetzung nehm, bin ich raus bei Dir, ne? Du legst Wert auf solche Kleinigkeiten, oder? Okay, ich versuch's trotzdem. Stark muss er sein! Aber nicht schwarz. Du bist irgendwie ein Milchbubi! Brauchst unbedingt Milch drinne! Das dürfte klar sein, ne?" "Okay, so weit, so gut. Zucker oder nicht?" "Definitiv kein Zucker!" "Perfekt! Vollfettmilch oder fettarm?" "Scheiße, das kann ich noch nicht wissen. Allerdings würdest Du nicht fragen, wenn Dir der Fettgehalt egal wäre. Also spricht alles für fettfrei!" "Vielleicht bin ich auch eher das Reh und Du der Hirsch!" "Du bist mein Bambi-Bastard! So, mein Held! Jetzt mal raus aus dem Moloch! Wir halten, wenn wir in Coral Gables sind! Da gibt's Kaffee!" Er gehorchte, ließ den Automatikgetriebehebel auf "D" einrasten und trat das Gaspedal komplett durch. Der Wagen blieb noch einen Moment auf der Stelle, als die Reifen ihr Profil auf dem Asphalt abrieben. Als sie die Überraschung überwunden hatten, gestatteten sie sich mehr Grip, der Mustang jagte los. Mit dem durchgetretenen Gaspedal erlaubte sich das Getriebe, den ersten Gang hochtourig auszukosten, bis er den Fuß etwas lupfte, um den oberen Gänge ihre Chance zu geben. Mit Erschrecken registrierte er, dass sich Wut in ihm breitmachte. Er ließ sich von ihr zum Affen machen, sie gab die Befehle, die Marschrichtung - und er durfte nur noch reagieren. Sie rasten den Highway 1 runter, die Glastürme lichteten sich und machten Platz für einige exklusive Villen am Straßenrand. "Ist was?" "Nein!" "Müssen wir reden?" "Nein!" Oh doch, und wie sie reden mussten! Nur nicht jetzt. Er wollte seine Wut auskosten. Wut löste in den Transmittern Prozesse aus, die Hormonbanden losschickten, um ein vorübergehendes Hochgefühl zu simulieren. Er fuhr nicht die vorgeschriebenen 35 Meilen die Stunde, sondern 70. Wechselte oft die Spur, um die obrigkeitshörigen Blechgefährte auf die Plätze zu verweisen. Er hatte die Kontrolle über die Geschwindigkeit. Über das Risiko. Er hatte die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, nur kurz das Lenkrad einschlagen und Schicksal spielen. Bis er vor sich den Polizeiwagen entdeckte. Die kurze künstliche Kontrollmacht war keine Interaktion mit den Miami-Cops wert. Seine Vitalwerte nahmen wieder normale Züge an. Was war er nur für ein Bastard von Bambi! Kommentare
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KommentareMi, 13.03.2013 07:34
leider geil!!!
Fr, 09.11.2012 07:37
Hallo Herr Nilsen,
da ich d
ie Bande auch schon kennenlern
en, und mit ihren eigenen Mitt
eln erfolgreich schlagen [...]
Fr, 05.10.2012 15:27
ist das geil!!!!!!
XD made my
day!
Freue mich grad n bis
chen, nicht zum St.Pauli-Cente
r zu müssen und bange gl [...]
Sa, 21.04.2012 22:12
Du solltest deinen Kopf mal ei
ner gründlichen Untersuchung b
eim Spezialissten unterziehen!
Was du alles mit "Nazis [...]
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