Dabei hatte er sich noch vor dem Flug nach Miami den Schwur abgerungen, auf dieser Reise durch den amerikanischen Traum ohne ernstgemeinten Versuch eines Selbsttötungs-Deliktes auszukommen. Schweinebeine mit Strichellinien standen in seiner Sicht nicht für eine alsbaldige Ausführungspflicht am eigenen Puls. Sie waren der Ausdruck eines neu gewonnenen Freiheitsgrades immensem Umfangs.
Die Möglichkeit, das Lebensparkett auf eigene Faust respektive durch eigene Hand hinter sich zu lassen, war ein veritabler Lebensmotor.
"Wenn ich mal nicht mehr kann", so pflegte er Vertrauten zu sagen, "dann bring ich mich eben um."
Das erste Mal formulierte er dies mit sechs Jahren. Und er sagte das damals ganz leise zu sich, als er mit Sorge registrierte, wie eine klaffende Wunde am Kopf sein Gesicht klebrig rot benetzte. Er war dieser Tage eigentlich stolz auf den Gürtel in seiner kleinen Jeans. Doch dass ihm die Gürtelschnalle so zum Verhängnis werden konnte, damit rechnete er an dem einen Nachmittag in den Sommerferien nicht. Er war doch gewohnt, dass seine Mutter, wenn sie ihn schlug, das nur mit der flachen Hand im Gesicht oder Fäusten mit spitzen Fingerknöcheln in den Brustkorb oder in den Rücken tat. Hätte er die begürtelte Hose doch morgens noch angezogen - und nicht die Cordhose ohne Gürtel. Die Cordhose hätte höchstens ein paar schnell verblassende Striemen in seinem Gesicht hinterlassen. Aber sie schlug nun mit der Jeans auf ihn ein. Und die Gürtelschnalle riss ein Loch in seine Schädelhaut.
Er ärgerte sich, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. Aber vielmehr bekam er es mit der Angst zu tun, die sofort bedrohlich in ihm herumzuwandern begann, als er den Aufprall der eisernen Schnalle über seinem Gehirn spürte.
Das hatte Mama nicht geplant. Dass er blutete. Und das machte sie um so wütender. Das wusste er genau. Mit seinen sechs Jahren.
Tja, jetzt schlug sie ihn also dafür, dass er sich erdreistete zu bluten. Hätte er doch nur eine Mütze getragen. Aber dann wäre er der Sünde am Sommersystem überführt worden. Wenn Sommer ist, dann trägt man keine Mütze. Und wenn man es doch tut, dann stört es vielleicht das Mama-System.
Gut, nun störte also der noch immer nicht versiegende Blutfluss das Mama-System. Völlig zurecht rastete sie noch mehr aus. Er bezweifelte zu keinem Moment die Rechtmäßigkeit dieser Zurechtweisung.
Er blieb starr stehen, schloss die Augen und ließ keine Gemütsregung nach außen entfleuchen, während er die geballte Wut auf sich einprasseln ließ.
Er war ja auch selbst schuld. Warum hatte er Mama auch so frech herausgefordert?
Und er würde sie nur um so wütender machen, wenn er nun mit dem Weinen oder gar mit dem Betteln, dass sie doch aufhören möge, noch zusätzlich störte.
"Du bist fünf Minuten zu spät!"
Die Anklage, als sich die Haustür öffnete, nachdem er von seinem Spielplatzbesuch heimkehrte, war knapp und klar nachvollziehbar. Und zunächst war er auch noch recht entzückt, als Mama nur mit der Hose auf ihn einschlug - und eben nicht mit der flachen Hand oder der Fingerknöchel-Faust. Er war sogar richtig erleichtert, fast schon etwas glücklich ob der günstigen Strafentwicklung, als die Hose die ersten Male um seine Ohren flog. Diese seine Überschreitung ihrer Grenzen schien da noch glimpflich geahndet zu werden. Bis das Gürtelgeschoss mit einem dumpf hölzernen Geräusch auf seinem Schädel einschlug.
Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis seine Mama dieses Mal wieder die Kontrolle über ihre Psychose erlangte.
Dann war es für dieses Mal vorbei. Und nun erfasste ihn innerliche Panik, denn solange er die Schlag-Schmerzen fühlte, hatte er Ruhe. Die Zeit nach den Zurechtweisungen war für ihn immer die schlimmste. Die Mama sprach nicht mehr mit ihm, sie ignorierte ihn. Und er hatte größte Angst, als er im Badezimmer die Blutung zum Stoppen brachte und sich das Gesicht wusch. Jetzt war Stille angesagt. Jetzt durfte er sich auf keinen Fall bemerkbar machen. Er musste für die nächsten beiden Stunden aufhören zu existieren. Die Mama musste sich jetzt erst einmal beruhigen. Und das konnte sie nur, wenn sie den Vorfall so schnell wie möglich vergaß. Und das ging nur, wenn sie für die beiden Stunden seine Existenz nicht wahrnahm. Alle inneren Alarmsysteme arbeiteten auf Hochtouren. Höchste Konzentration, jeder Schritt, jede Bewegung musste genau geplant und durchgeführt sein, dass bloß niemand von ihm Notiz nahm. Er schlich in sein Zimmer und schloss die Tür, so leise er nur konnte. Vorsichtig ließ er sich auf seinem Drehstuhl vor dem Schreibtisch nieder. Das Knarren des Stuhls ließ ihn zusammenfahren. Hoffentlich hatte sie ihn nicht bemerkt. Aber es blieb ruhig. Lesen war jetzt auch keine gute Idee, das Rascheln beim Seitenumblättern konnte verheerende Folgen haben. Das Seitenumblättern konnte seinen Tod bedeuten! Das wusste er schon mit sechs Jahren. Nein, das wusste er schon viel früher.
Und wenn seine Mama ihn töten würde, weil er ihr System störte, dann hätte er seine Aufgabe nicht erfüllt. Die Aufgabe, das Mama-System am Leben zu erhalten.
Andererseits überlegte er sich in den zwei Stunden Stillsitzen am Schreibtisch, ob es nicht sinnvoller wäre, sich selbst zu töten. Dann hätte zumindest die Angst ein Ende. Die Angst vor dem Tod hätte ein Ende, wenn er den Tod höchstpersönlich in sein kleines Kinderzimmer einladen würde.
Aber dieser Gedankengang gab ihm damals nicht das Gefühl von Freiheit, selbst frei entscheiden zu können. Dieser Gedankengang löste eine viel größere Angst aus.
Denn Jehova mochte es nicht, wenn sich einer seiner Diener das Leben nahm. Und wenn er, der sechsjährige Junge, da vorm göttlichen Gericht nervös auf der Anklagebank herumrutschen würde, während die strafenden Blicke von Gottes Sohn auf ihm ruhten, hätte er noch kein ausgearbeitetes Plädoyer. Naja, und vor allem wär ein menschliches Plädoyer (und dazu noch im Zuge einer kindlichen Selbstverteidigung) vom göttlichen Endzeitgericht nie und nimmer zugelassen worden. Nein, der liebe Gott, Jehova, würde kurzen Prozess mit ihm machen. Besonders in Hinblick auf seine unverschämt lange Sündenkartei (schlimmste Sünde in seinen Augen: Die Mama nicht geehrt!).
Zwar hatte er im Königreichssaal der Zeugen Jehovas in Cuxhaven gelernt, dass der liebe Gott so einiges verzeihen konnte außer eben Selbstmord.
Aber vor allem wurde gelehrt, dass es keine Hölle gab und der liebe Gott einfach nur ganz lieb die vor sich hin vernichtete, die nicht in sein ausgeklügeltes System fürs ewige Leben im Paradies passten.
Vielleicht tat die Vernichtung ja gar nicht weh. Erstmal brachte er sich selbst um und dann noch mal der liebe Jehova. Und das war's dann endgültig!
Aber konnte er wirklich darauf vertrauen? Schließlich gab es in der Bibel ja genug Passagen über nicht ganz so liebe Vernichtungsfeldzüge vom lieben, aber rachsüchtigen Gott. Und die lasen sich nun gar nicht so lieb. In der Offenbarung zeichnete Johannes unter göttlicher Inspiration ja so einige Schreckensbilder. Brennende Felsbrocken vom Himmel, Schmerzensschreie der gerecht Gerichteten. Sie schrieen! Und sie schrieen sicher nicht aus Freude, dass sie nun dem irdischen Dasein und ihrer Mutter und Großmutter entkamen. Die schrieen nämlich - und da war er sich ganz sicher - weil es verdammt weh tat. Und woanders in der Bibel stand, dass 1000 Jahre Menschheitsgeschichte für den guten Jehova wie eine Sekunde war. Ganz klarer Sachverhalt: Auch wenn der mächtig weise liebe Gott ihn vernichtete - und das nur einen Bruchteil von Sekunden entsprach, so würde sein Tod in Menschenzeit um die hundert Jahre dauern können. Wenn nicht sogar noch länger. Und so lange mochte er dann auch nicht schreien.
Also war es das kleinere Übel, die kommenden gut 80 Jahre auf einen von Gott legitimierten Tod zu warten. Und das eben nur ab und zu mal unter Schmerzen.
Das übelste Szenario wäre allerdings folgendes gewesen: Durchs Rascheln eines umgeblätterten Buches würde sich Mama jäh an seine Existenz erinnern. Und die Erinnerung an die überzogene Bestrafung würde ihr langsam zur Ruhe kommendes System neu anstoßen. Mama würde sich eingestehen, dass sie eine schlechte Mama war. Und das würde Mama nicht ertragen. Diese Systemunruhe würde sie dermaßen aus der ohnehin labilen psychischen Bahn schleudern, dass ihre erneute Kurzschlusshandlung dramatische Ausmaße annehmen musste. Erst die raschelnde Existenz des Sohnes auslöschen, den sie in ihrem eigenen Bewertungsrahmen zur Lebensunfähigkeit verzogen hatte. Und dann das eigene Dasein beenden. Er würde dann jedoch wieder vor Jehova sitzen müssen und die 1000jährige schreiende Vernichtung über sich ergehen lassen, da er durch das Buchrascheln die Mama unehrenhaft zum Äußersten trieb.
Hier kam er also erstmal nicht raus. Jedenfalls nicht mit sechs Jahren.
Damals konnte der kleine Junge auf seinem Drehstuhl in der mütterlichen Wohnung in Cuxhaven ja noch nicht damit rechnen, dass er es sein würde, der ein Viertel Jahrhundert später Gott selbst gerichtet haben würde.