Geschichten in und aus der U-Bahn kommen immer gut.
Ende letzten Jahres fuhr ich eines Samstagabends vom Hauptbahnhof kommend Richtung Heimatbahnhof St. Pauli.
Schräg gegenüber am Fenster saß ein in nachdenklicher Grübelei gefangener Schwarzer, den ich auf Ende 30 schätzte.
Ab und zu schloss er die Augen, und es sah so aus, als würde er gedankliche Schmerzen empfinden.
Mehrere Stationen beobachtete ich den vermeintlich Leidenden und verbrachte die Zeit damit, mir auszumalen, was ihm wohl Leid beigefügt hätte.
Arbeit verloren? Frau verloren? Auto zu klump gefahren? Allgemeiner Hass auf alles Deutsche? Irgendwann geriet ich in den unvermeidlichen und doch so typischen Gedankensog, er sei sicher ein Opfer rassistischer Gewalt.
Zugegeben, damit machte ich mich streng genommen auch einer Art von Rassismus strafbar - indem ich ihm stereotyp unterstellte, ein potentielles Opfer von sorglos und munter operierenden Nazi-Stoßtrupps zu sein.
Aber glücklicherweise hörte niemand meine Gedanken.
Je weiter sich der stählerne Wurm meinem Zielbahnhof näherte, je mehr füllte er sich mit frachtwilliger Nahrung. Menschen drangen in ihn ein, Menschen wurden von ihm ausgespuckt.
Ich begann, an Sex zu denken - wie es solch eine U-Bahn-Fahrt gern mal hergibt.
Am Jungfernstieg stieg eine kleine Horde Mittvierzigerinnen in feine Büro-Uniformen gekleidet und mit den üblichen Samstagsnacht-Kriegsmaskierungen zu. Da musste ich ans Militär denken - und an Spachtelmasse, die baufällige Häuser zu vermeintlich wertvollen Anlageobjekten hilfloser und kaufwilliger Konsumtrottel macht, die noch immer nicht verstehen, dass selbst Gutachten mittels einer wohldosierten Finanzspritze der Maklermafia aufgepimpt werden können.
All diese ach so sozialkritischen Gedankengänge wurden überlagert durch das Gekreische der Damengruppe. Sichtlich und vor allem hörbar angetrunken beschränkten sie sich nicht darauf, sich selbst zu unterhalten, sondern erspähten eine Gruppe halbstarker Teen-Jungs, denen sie penetrant allerlei sexuell verfängliche Fragen stellten. "Na, Kleiner, hast Du schon mal?" "Wollt Ihr mit uns was trinken - und noch ein wenig mehr?"
Mehr als zunächst hilfloses Gekicher brachten die armen und überforderten Opfer nicht heraus, konfrontiert mit der gewaltig vom Alkohol entfesselten Hormonübermacht.
Zunehmend machte sich bei den Jungs offen kommunizierte Genervtheit breit - die Tussi-Truppe war allerdings im Blutrausch bereits so immun gegen jegliche Feindseligkeit, dass sie die Abwehr-Signale als Aufforderung für neue Angriffswellen interpretieren wollte.
Nicht nur die Jungs waren genervt.
Plötzlich begann mein bis dahin still leidender Gegenüber, Aktivität zu entwickeln.
Zunächst murmelte er unverständlich vor sich hin, ich lächelte ihn mit einem gewissen Aufforderungscharakter an. Ich wünschte mir eine Eskalation.
"Shut the fuck up!"
Er brüllte es dermaßen unvermittelt und mit einem erdbebenartigen Donnern heraus, dass ich zusammenzuckte. Und ihn selig angrinste.
Er hatte sein mutmaßliches Selbstmitleid nun ganz vergessen und setzte eine wohltemperierte Trompete mit einer veritablen Varietät an afroamerikanisch gefärbten Schimpfworten an, wobei er peinlich genau darauf achtete, immer die Rechtmäßigkeit seines Handelns mit der mutwilligen externen Störung seines inneren Friedens zu untermauern.
Endlich ließen die Mittelbau-Hyänen von ihren minderjährigen Opfern ab und widmeten sich voll und ganz meinem Gegenüber. Das schrille Durcheinanderkreischen durchkreuzte all meine Versuche, den Sinninhalt ihrer Tiraden zu dekodieren.
Zum Glück fiel irgendwann das Wort "Neger"!
Ich war verzückt!
Sie hatten doch tatsächlich "Neger" gesagt!
Mein Stichwort.
Ich stellte mich rhetorisch gewandt als linksradikale Zecke vor, deren oberempfindliche Antifa-Antennen selbst verdeckten Faschismus aus dem Grundrauschen vieler gleichzeitiger Gespräche extrahieren kann.
Ich wunderte mich, als meine kleine freundlich moderierende Intervention fruchtete und die ehemaligen Gazellen ihre aufrechten Sitzpositionen einnahmen, um nun darüber zu diskutieren, welcher der Mitarbeiter denn besonders leicht verführbar sei - und auf welche von ihnen der Chef wohl ein Auge geworfen hatte.
Mein Gegenüber schaute mich an, als ich mich wieder setzte - und dann fingen wir unvermittelt an, schallend zu lachen.
In "St. Pauli" stiegen wir gemeinsam mit den Büro-Wachteln aus, und er lud mich auf mehrere Biere in eine Kneipe ein, die sich konsequent den Wochenend-Kiez-Touristen und ihrer nächtlich eskalierenden Flucht aus dem trägen grauen Arbeits- und Familien-Allerlei lebensverschlafener und steril organisierter 5-Tage-Wochen verschließt.
Und so erfuhr ich zu vorgerückter Stunde, dass mein U-Bahn-Gegenüber auf der Fahrt gar nicht leidend, sondern nur totmüde ob einer langen Reise aus dem Süden Deutschlands nach Hamburg war.
Aber dafür tat er mir in der Retrospektive doch noch mal leid - denn Mitleid ist manchmal cool auf St. Pauli!